Sehnsucht. Sehnsucht nach einer Heimat, Sehnsucht nach einer Familie, Sehnsucht vor al-
lem nach einer vergangenen Zeit, der Zeit seiner Jugend, der Zeit seiner Hoffnungen und
seiner Träume. Sehnsucht nach einer Zeit also, in der er noch voller Hoffnungen gegen das
Leben stand, noch unbestimmt sein Schichsal, seine Träume und seine Wünsche noch vol-
lzuziehen, weil sie eben vollgezogen werden konnten. Dieses Gefühl von einer Zukunft, der
erst hinter sich liegt, ist Ursache und Folge seiner literarischen Tätigkeit. Nun, sagt er sich
zu einem bestimmten Punkt seines Lebens, in den Jahren der Emigration, kurz vor seinem
Tod, nun gibt es nichts mehr zu machen, alles, was sein werden konnte, ist nicht geworden,
nun gibt es nur den Tod vor mir, sonst nichts mehr.
Eine Welt ist verschwunden. Diese Welt, die heute nicht mehr vorhanden ist, hat uns
Überlebendern einige Spuren hinterlassen. Unsere Aufgabe besteht darin, auf der Suche
nach diesen letzten Spuren zu gehen, bevor die Zeit sie endgültigerweise zerstören wird.
Die Literatur ist nichts anderes als die Bewahrung von diesen von Zeit gefährderten
Spuren. Wir können nicht vermeiden, indem wir solche Spuren nachlesen, uns bewußt zu
werden, daß jene Welt, der die Spuren angehören, heutzutage erst in Erinnerungen weiterbe-
steht, und vor allem in schriftlichen Erinnerungen, was wieder Literatur heißt. Diese Welt
existiert nicht mehr und wird nie mehr existieren. Was übrig bleibt, ist die Sehnsucht nach
dieser verlorengegangenen Welt.
Die Sehnsucht ist, wie oben gesagt, ein Endpunkt. Am Beginn ist Roths Schaffen
anders gefärbt, am Anfang kann man diese Sehnsucht nur vorahnen, besser nur spüren. Sie
wird erst später völlig auftauchen, als die private und öffentliche Enttäuschungen, die er
während seines Lebens erleben sollte, ihm keine andere Flucht – Flucht ohne Ende
2
sogar –
ließ als die Flucht in die Sehnsucht nach seiner verlorengegangenen Jugend, Familie, Hei-
mat, Welt.
Sehnsucht nach einer Welt soll auch als Sehnsucht nach einer bestimmten Zeit ver-
stehen werden, nach der Zeit seiner Jugend, in der bestimmte Werte noch herrschten und
anerkannt wurden. In diesem Sinne geht es um eine gewisse Art von Sehnsucht, und zwar
2
´Flucht ohne Ende´ ist der Titel seines Romans vom Jahre 1927.
die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft. Die Jugend ist aber unwiderruflich vorbei. „Was
bleibet aber / Stiften die Dichter“.
3
Die Um- und Verarbeitung dieser Sehnsucht eben kennzeichnet wie einen roten Fa-
den das journalistische wie erzählerische Werk Joseph Roths. Es ist Gemeinplatz in der heu-
tigen Kritik, daß solche Sehnsucht als reaktionär und fortschrittsfeindlich zu betrachten ist,
da jeder Versuch, eine vergangene Epoche wiederherzustellen, gerade reaktionär gefärbt
sein sollte. Roths Bekenntnis in der Emigration als Legitimist und Monarchist, seine Um-
kehrung von Sozialismus zur Aristokratie, sollten eben Beweis dafür leisten, daß der „Rote
Joseph
4
“ zum Jospeh Roth geworden ist.
Roth sollte nämlich nach dieser Kritik als Feind der Moderne angesehen werden. In
seiner Ablehnung gegen den Zeitgeist sind mehrere Aspekte enthalten, welche insgesamt als
eine Ablehnung gegen die Moderne betrachten sein können. Die Moderne wird nämlich als
den neuen Zeitgeist gesehen, daß die alte Welt mit seinen Werten endgültig vernichtet hat.
Die Technik und der Fortschritt haben eben den Menschen aus seiner Tradition herausgeris-
sen und ihm ohne Orientierung und ohne Sinn wie aus den Fugen allein verlassen.
Der Mensch infolgedessen liegt in der Macht der Geschichte, welche als Fortschrit-
tstendenz die Menschlikeit völlig zerstört und das Erscheinen des Nationalsozialismus nicht
nur erlaubt, sondern begünstigt.
Rohts Judentum wird nun wiederentdeckt als Schutz gegen die Geschichte, als Flucht
aus der Zeit, als idealisierte Welt seiner Jugend und seiner Heimat, also als sinngebende
Verteidigung gegen den Nihilismus der Moderne und als einzige individuelle Rettung aus
der Geschichte, in die Legende
5
.
In Wirklichkeit, und darin besteht also unsere These, ist Roths scharfe Kritik gegen
die westliche Gesellschaft und seine kapitalistische Weltanschauung, nach der der Mensch
zu Ware reduziert wird und die ewige humanistische Werte ausgesetzt werden, eine Kon-
stant in sein Leben. Roth ist immer in diesem Sinne konsequent gewesen, von seinen ersten
Artikel als Mitarbeiter der Wiener Zeitungen bis die Feulleiton der Frankfurter Zeitung und
3
Von Hölderlins Gedicht „Andenken“, zitiert von Martin Heidegger in: „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“, Klos-
termann, Frankfurt a. M. 1981.
4
In einigen Artikel der frühen Zwanziger Jahren hatte er solchen Spitznamen benutzt.
5
´Die Legende vom Heiligen Trinker´ wird seine letzte Novelle betitelt, welche 1939 kurz vor nach seinem Tod in Paris
erscheinen wird.
der Pariser Zeitungen der Exil. Er schrift kompromißunbereit und radikal, höchst radikal
gegen die sogenannte westliche Demokraite, den Liberalismus und die Warengesellschaft.
Man muß im voraus sagen, daß es in seiner scharfen Kritik, die zur Kulturkritik wird, her-
vorzuebende Themen behandelt weden, die noch heute ihre Relevanz und ihre Wichtigkeit
behalten haben. Paradox erscheint es, daß ein Schriftsteller, welcher sich zu dem Mythos als
sinnstiftende Instanz gegen die Reälitat wendet, eine durchaus rücksichtlose Kritik zu üben
in der Lage ist, die sich in mehreren Punkten als rigorose und gerechtfertigte enthüllt. Wenn
er zum Monarchist wird, ist die Folge eines Verrats. Aber nicht Roth hat verraten! Die So-
wietunion, das Vaterland des Sozialismus und der menschlichen Befreiung von der Fesseln
der Sklaverei, hatte eben verraten, indem sein angeblicher Sozialismus nichts anderes als
eine Nachahmung des Westen ist, indem die Gesellen zu Bürgern werden.
Die Geschichte selbst hat sich selbst verraten
6
. Die Aufklärung, die als humanistische
Verwirklichng aller Hoffnungen sein sollte, hat sich selbst widerscprochen und nicht nur
das bürgerliche Bolschewismus geschafft, sondern auch den Nazionalsozialismus verur-
sacht. Nicht Roth hat seine Kritik und seinen humanistischen Gesichtspunkt geändert. Er ist
immer dort geblieben, wo er sich von Anfang an befunden hat. Die Geschichte, die moderne
sinnlose Geschichte mit dem Zufall als neuer Gott hat die Weltunordnung und der Unter-
gang der einzigen möglichen Heimat gezeugt. Ein chronologisches Studium seines Gesam-
twerk wird Licht zu dieser These geben
7
.
Unsere Absicht liegt darin, die Entwicklungsphasen dieser Kulturkritik zu folgen und
die nebensächliche Themen hervorzueben, die im Laufe der Jahre vom Autor bearbeitetet
werden.
Ende
6
Die berühmte „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno – Horkheimer ist unüberwindlicher Beweis dafür.
7
Joesph Roth Werke in 6 Bände, herausgegeben von Klaus Westermann und Fritz Hackert, Kiepenheuer & Witch,
1989-1991. Erster Band: Das journalistische Werk 1925-1923;
Zweiter Band: Das journalistische Werk 1924-1928;
Dritter Band: Das journalistische Werk 1929-1939;
Vierter Band: Romane und Erzählungen, 1916-1929;
Fünfter Band: Romane und Erzählungen, 1930-1936;
Sechster Band: Romane und Erzählungen, 1936-1940.
1. DICHTUNG UND KRIEG
1.1 1915: Lyrische Anfänge.
Die wunderschönsten Geschichten erzählt mir mein Freund, der Wind. Die
Leute sagen zwar, es gebe einige Winde. Aber ich weiß es: Es gibt nur einen. Der
weht von Ost nach West und von West nach Ost; von Nord nach Süd und zurück.
Viel Schönes sieht er und viel Häßliches: viel Frohes und viel Trauriges. Und
nachts pocht er manchmal an meine Fensterscheiben und erzählt mir
Geschichten.
1
Der erste Artikel Joseph Roths, Herbstwindes Kriegsgeschichten, der die
Gesamtausgabe eröffnet und welcher aus dem Jahre 1915 stammt, ist von einem
märchenhaften Ton gekennzeichnet. Der damalige Krieg verlangte eine Flucht
aus der Wirklichkeit. Die Grausamkeit des Krieges aber unterbricht das
Märchenhafte durch die Figur eines Juden, der von Roth als Kriegsopfer
dargestellt wird.
In einer schmutzigen Straße einer polnischen Kleinstadt wirbelte ich den
Staub auf. Vor der Türe eines alten, halbverfallenen Häuschens wehklagten
Weiber, fluchten wild Kosaken. Ein Jude in langer Kapotte mit grauem Bart hing
auf einem frischgezimmerten Galgen.
2
1
Joseph Roth: Werke, hg. v. Klaus Westermann und Fritz Hackert, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989-
1991.
Erster Band: Das journalistische Werk 1925-1923;
Zweiter Band: Das journalistische Werk 1924-1928;
Dritter Band: Das journalistische Werk 1929-1939;
Vierter Band: Romane und Erzählungen, 1916-1929;
Fünfter Band: Romane und Erzählungen, 1930-1936;
Sechster Band: Romane und Erzählungen, 1936-1940.
Im folgenden wird der jeweilige Band mit römischer Zahl und die Seite mit arabischer Zahl zitiert.
Hier: I, 3.
Joseph Roth, dessen Namen eigentlich Joseph Moses Roth war, war
jüdischer Abstammung. Er wurde in Brody, Galizien, 10 Km. weit von der
russischen Grenze, im Jahre 1894 geboren. Brody, wo die Mystik des
Chassidismus starken Widerhall gefunden hatte, bildete, ebenso wie Tarnopol,
im 19. Jahrhundert den Mittelpunkt einer entgegengesetzten, rationalistischen
Bewegung, der Haskala - "Aufklärung" -, deren Geist nach Rußland getragen
wurde. Diese Bewegung bekämpften die Chassidim wegen ihrer Ablehnung
jeglicher Art westeuropäischer Kultur.
3
Seit der ersten Teilung Polens 1772 gehörte Galizien dem Habsburger
Reich, später Österreich-Ungarn an, welches ein aus 8 Nationen und 15
Kronländern bestehender Vielvölkerstaat war. Wie Stefan Zweig erklärt
4
, waren
die Juden die besten Vertreter der deutschen Kultur in den Kronländern. Oft,
allzu oft Opfer des Antisemitismus, der in Osteuropa stark ausgebreitet war, hatte
der sogenannte 'Grenzjude' immer mehr in der deutschen Klassik ein Vorbild für
seine kulturelle Identität gefunden, das gleichzeitig als Gegenbild für den
Antisemitismus der slawischen Völker galt. Die deutsche Kultur und die
deutsche Sprache waren also zu Symbolen der jüdischen Bildung geworden.
Angesichts der von den Juden angestrebten Assimilation galt die deutsche Kultur
als Visitenkarte für einen möglichen gesellschaftlichen Aufstieg.
„Die Juden“, so meint Ernst Toller, späterer Freund Roths, „fühlten sich als
Pioniere deutscher Kultur. In den kleinen Städten bildeten jüdische bürgerliche
Häuser die geistigen Zentren; deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden
hier mit einem Stolz, der ans Lächerliche grenzte, gehütet und gepflegt. (...) Die
Juden saßen an Kaisers Geburtstag mit den Reserveoffizieren, dem Kriegsverein
und der Schützengilde an einer Tafel, tranken Bier und Schnaps und ließen
Kaiser Wilhelm hoch leben“.
5
2
I, 4.
3
Vgl. David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1974, S. 77.
4
Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Bermann-Fischer Verlag,
Stockholm 1944; Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1982.
5
Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland. Querido Verlag, Amsterdam 1933; Rowohlt Verlag, Reinbek
bei Hamubrg 1973, S. 13.
Ein ehemaliger Mitschüler Roths erzählte einmal, er sei in den Jahren des
Gymnasiums Mitglied eines zionistischen Vereins gewesen und habe einmal
Roth gefragt, ob er auch teilnehmen wolle. Roths Antwort sei folgende gewesen:
„Ich bin ein Assimilant! Aber nicht hier! (Ich kann mich noch erinnern, wie er
mit dem Finger auf den Boden zeigte). Ich bin kein polnischer Assimilant,
sondern ein Österreicher.“
6
Joseph Roth, als Wiener Student 1913 frisch immatrikuliert, hatte sein
Judentum hinter sich gelassen. Wie viele andere Ostjuden, die sich als Juden
minderwertig fühlten, so wollte auch Roth eher als Deutscher öffentlich
anerkannt werden. Wie David Bronsen in seiner meisterhaften Rothschen
Biographie behauptet, so wollte der junge Roth wie der klassische Typ des
Wiener Dandys aus den Beamtenkreisen aussehen. Der auch aus Galizien
stammende Józef Wittlin, späterer Kommilitone Roths und Schriftsteller, war
überrascht, als er erfuhr, daß in dem arrogant wirkenden Dandy ein jüdischer
Landsmann zu finden war.
7
Noch etwas aus diesem ersten veröffentlichen Artikel:
Zwei Mädel kannte ich, die liebten beide einen Jungen. Schön und stolz und
stark war er. Als er in den Krieg zog, weinten beide. Sie stritten, sooft ein Brief
von ihm kam. Vor einiger Zeit lasen sie seinen Namen. Tot ist er. Nun sind sie
Freundinnen. Sie sitzen lange Nächte beisammen und erzählen sich Geschichten
– von ihm...
8
Der Tod wirkt hier als Versöhnungselement für die zwei Mädchen: Erst
nach dem Tode ihres Geliebten können sie zu Freundinnen werden und von ihm
erzählen. Was sie gemeinsam haben, sind die Erinnerungen an ihn, die nun zum
Erzählstoff werden. Ähnlich sollte Roth nach dem Untergang seiner Heimat aus
derer Erinnerung seinen großartigen Erzählstoff herausziehen.
6
David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, a.a.O., S. 82.
7
Ebd., S. 139.
8
I, 4.
Der junge Roth, der bis dahin zu der „Österreichs Illustrierten Zeitung“
mehrere Gedichte beigesteuert hatte, wollte sich als Dichter und Erzähler
behaupten.
Das war Roths Traum: Ein Dichter zu werden. Schon im Gymnasium hatte
er oftmals versucht, sein Talent zur Dichtung von seinen Professoren bewerten
zu lassen. Sein damaliger Professor für Deutsche Literatur aber kanzelte ihn
einmal ab, indem er ihm empfahl, sich eher der Prosa zu widmen.
Der junge Roth war 1915 vom Krieg noch verschont geblieben. Erst im
folgenden Jahr sollte sich der pazifistisch eingestellte Roth mit seinem
Landsmann Wittlin als Freiwilliger anmelden. Die Gründe, die sie dafür
vorbrachten, waren mehrere: Die Schande, zum Beispiel, noch in Zivil
herumzulaufen, als die meisten Freunde schon in Uniform zu sehen waren. Als
zukünftige Schriftsteller – so träumten sie damals – sollten sie außerdem die
Kriegserfahrung erleben, welche später in ihren Werken ihren Niederschlag
finden sollte.
9
Wie eben gesagt, war es sein Traum gewesen, ein Lyriker zu sein: Joseph
Roths Weg in die Feuilletons der Wiener Zeitungen führte über Lyrik. Schon
1915 waren zwei seiner Gedichte im Feuilletonteil der „Österreichs Illustrierten
Zeitung“ erschienen. Der damalige Germanistikstudent wollte sich als Dichter
auszeichnen und hatte infolgedessen schon vor seiner Rekrutierung mehrere
Gedichte verschiedenen Wiener Zeitungen sowie dem „Prager Tagblatt“
zugeschickt. Diese lyrischen Versuche, die später von dem Autor selbst als
mißlungen betrachtet wurden, sind dennoch für seine literarische Anfänge
bemerkenswert.
Wie schon der Titel ahnen läßt, ist der Tod das Thema von Herbst:
(...) Das ist der Tod.
Er gilbt in Rohr und Ried,
Er welkt im Blatt und spielt im Sonnenschein,
Er jauchzt im Wind und weint in jedem Lied:
9
David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, a.a.O., S. 160.
Er lebt im Sterben – und er stirbt im Sein.
10
Noch einmal der Tod also, der „im Wind jauchzt“ – derselbe Wind, der „die
wunderschönsten Geschichten erzählt“, wie es im Eingangszitat heißt. Der junge
Dichter befaßte sich klischeehaft mit dem Krieg, welcher in jenen Jahren in ganz
Europa herrschte und die Welt zur Katastrophe führte. Roth wußte anfangs erst
lyrisch oder märchenhaft den Tod zu behandeln. Sein Weltschmerz fand eher
konventionell freien Lauf. Er strengte sich an, die Form des Sonetts gebührlich
auszufüllen. Er schrieb fast immer mit alternierendem Reim und am liebsten
nicht über vier Strophen hinausgehend. Die übrigen Poeme variierten dieses
Muster auf gefällig kontrollierbare Weise in fünf- und sechszeiligen Strophen,
auch mit Paar- und Kreuzreimen, doch ohne Abweichungen von der impliziten
Norm.
11
Joseph Roth war dem Tod sehr früh in seinem Leben begegnet. Sein Vater
lernte nie seinen Sohn kennen: Während einer Geschäftsreise – er war
Holzhändler – kam eine geistige Erkrankung zum Ausbruch. Er kehrte nie wieder
zurück nach Hause. Er wurde später bei einem wundertätigen Rabbi im
russischen Teil Polens in Pflege gegeben
12
. Roths Leben wurde von diesem
tragischen Ereignis unwiderruflich gekennzeichnet. Die Bebegnung mit dem
Tod wurde für ihn keine unmittelbar mit dem Krieg verbundene Erfahrung.
Roth fuhr mit seiner schriftstellerischen Aktivität während des Krieges fort.
Er diente als Kriegskorrespondent und war auch mit der Zensur von Briefen
befaßt. Die Kriegserfahrung sollte ihn aber seinem lyrischen Anspruch ein Ende
setzen. Durch das tragische Erlebnis an der Front wurde er es gewahr, daß seine
romantischen Gedichten in jenem Kontext nur einen oberflächlichen Zeitvertrieb
waren. Er begann durch ein Ernüchterungsprozeß eine öde Wirklichkeit vor sich
zu sehen, die sich nicht mehr verschönen ließ. Aber der Entschluß, mit der
Dichtung aufzuhören, wurde nicht auf einmal, sondern allmählich gefaßt.
10
I, 1101.
11
Michael Winkler, Gedruckt und ungedruckt. Joseph Roths Lyrik, in: Joseph Roth. Interpretation
Rezeption Lyrik, hrsg. von Michael Kessler und Fritz Hackert, Stauffenberg Verlag, Tübingen 1990, S.
419.
1.2 1916: Pazifist und Freiwilliger.
Die Dummheit ist unsterblich wie die Weisheit, die Häßlichkeit wird ewig
leben wie die Schönheit. Man kann die Dummheit nicht töten, wohl aber
auslachen. Und die Satire lacht sie aus. (...) Freilich, die Satire ist auch eine
Rache. Eine grimmige zuweilen, aber stets eine vornehme. Eine Rache, die das
Verzeihen gebärt. Sie ist die Rache der Götter und der Dichter...
13
Über die Satire wurde im Jahre 1916 mit einem anderen Artikel in der
„Österreichs Illustrierten Zeitung“ veröffentlicht, in der außerdem Roths zwei
anderen Gedichten und eine Kurzgeschichte erschienen.
Der junge Roth war sich schon bewußt, was für eine Wichtigkeit die Satire,
Rache der Dichter, hatte. Sich gegen die Dummheit der Welt, die Ursache des
Weltkriegs gewesen war, durch die Verspottung zu rächen bedeutete für den
jungen Roth, die Überlegenheit des Dichters zu behaupten. Die Satire wurde von
ihm folglich als eine literarische Waffe betrachten, mit der man den Stand der
Dinge kritisieren konnte. Wie Roth in demselben Artikel fortführt, wer verspottet
wird, der wird besiegt. Denn nur wer ausgelacht wird, wird nicht gefürchtet. Hier
ist schon Roths Programm enthalten: Das Schreiben bedeutet Engagement gegen
die politische Macht, bedeutet also gesellschaftlich eingestellten Journalismus.
Daß Roths politische Interessen sehr früh auftauchten, kann man auch von
der Tatsache ableiten, daß der frisch in Wien angekommenen Student im
September 1913 den Tagungen des XI. Zionisten – Kongresses beiwohnte, wo er
sich als Korrespondent ausgab. An demselben Kongreß nahm auch ein Prager
jüdischer Schriftsteller teil: Franz Kafka
14
.
Roth hatte die Absicht, wie oben gesagt, sein Judentum in der
Öffentlichkeit zu verstecken und sich als Wiener Dandy auszugeben. Dennoch
war sein Judentum für ihn - wie seine Anwesenheit bei dem zionistischen
12
Helmut Nürnberger, Joseph Roth, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1981, S. 21.
13
I, 8.
14
David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, a.a.O., S. 116.
Kongreß beweist - kein unerhebliches Element, zumal er den wachsenden
Antisemitismus der Wiener deutschen Studenten schon gekannt hatte.
Der andere Artikel ist eigentlich kein Artikel, sondern ein Märchen: Die
Geschichte vom jungen Musikanten und der schönen Prinzessin:
Es war einmal ein blutjunger Musikant, (...). Und in einem fernen, fernen
Reiche lebte eine wunderschöne Prinzessin.
15
Es handelt sich von einem mit einem pathetischen Ton gefärbten kurzen
Märchen. Der Schluß ist nicht unerwartet: Der Musikant, der sich um die
Prinzessin geworben hatte und daraufhin zugunsten eines anderen abgelehnt
wurde, stirbt. Sie beugt sich über ihn und weint, nachdem sie ihn geküßt hat.
Noch einmal eine Fabel, und noch einmal der Tod. Üblich werden in den
Märchen die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Roth aber läßt die Guten mit
dem Tode belohnen und die Bösen mit dem Leben bestrafen, also eine
anscheinende Ungerechtigkeit. Das aber, was dem Märchen Sinn verleiht, ist die
Sehnsucht:
Er hatte eine goldene Geige, auf der waren vier Saiten gespannt. (...) Aber
die vierte Saite, die klang am schönsten: Es lag so etwas Wundersames darin,
Zauberzartes und Sehnsuchtstiefes.
16
Was der Prinzessin übrigbleibt, ist die Sehnsucht. Mit den anderen
obengenannten Schwerpunkten - dem Märchenhaften, dem Judentum und dem
Tod - ist die Sehnsucht ein im Hintergrund andauernd liegendes Thema in dem
Gesamtwerk Joseph Roths. Diese Punkte sind miteinander gebunden und
aufeinander bezogen: Nur die Sehnsucht, welche erst nach dem Tod entstehen
kann, kann sinnstiftend sein, weil der Mensch erst nach dem Tode wirklich
begreifen kann, wie wertvoll der Dahingeschiedene für ihn war. Die Erinnerung
15
I, 8.
16
I, 8.
entsteht also nach dem Tode und die Sehnsucht nach dem Gestorbenen ist die
Folge.
Um Roths Gedanke besser darzulegen nehmen wir Bezug auf Georg
Simmel, der in seiner Philosophie des Geldes
17
die von der Psychologie schon
bekannte Regel erklärt, daß man erst nach dem Verlust erkennt, was für eine
Bedeutung das Verlorene hatte. Das Vorhandensein des Dinges verhindert eine
distanzierte und gestattet nur eine unmittelbare Beziehung. Erst der Verlust des
Liebesobjekts erlaubt einen kritikfähigen Gedanken. Mit Simmels Worten: „Wir
schätzen viele Besitztümer erst dann recht als Werte, wenn wir sie verloren
haben. Die bloße Versagtheit eines begehrten Dinges stattet es oft mit einem
Wert aus. (...) Der Wert entspringt nicht in der ungebrochenen Einheit des
Genußmoments, sondern indem dessen Inhalt sich als Objekt von dem Subjekt
löst und ihm als jetzt erst Begehrtes gegenübertritt. (...) Die Möglichkeit des
Genusses muß sich erst von unserem augenblicklichen Zustand getrennt haben,
damit wir die Dinge begehren, die nun in Distanz von uns stehen“.
18
Es wäre sehr einfach, im Fall Joseph Roths, seine Sehnsucht als die
Sehnsucht nach dem verschollenen Vater zu deuten, so daß sein erzählerisches
wie publizistisches Werk nichts anderes als ein Sublimierungsprozeß für den
Verlust des Vaters gewesen sein würde. Sachgerechter scheint es uns, den
Verlust des Vaters gewiß als ein entscheidendes Trauma in Roths Leben zu
deuten. Aber seine Sehnsucht kann man nicht bloß auf diesen Verlust reduzieren.
Roths Vokabular und seine Bilder zeigten keine besonderen individuellen
Eigenschaften. Es läßt sich allgemein eine starke Vorliebe für poetisch gehobene
Sprache feststellen, für jenen Ton des vornehm und variationsreich Erlesenen,
der zur ästhetischen Stilkunst der Jahrhundertwende gehört. Roths erste Gedichte
und Kurzgeschichten waren zunächst literarische Übungen und Versuche also,
die den treffenden Ausdruck, die genaue Formulierung suchten. Roths Sehnsucht
17
Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1989.
18
Dieser Begriff wird von Simmel in dem ersten Kapitel: Wert und Geld, entwickelt, dessen Untertitel
eindeutig läutet: Die wirtschaftliche Wert als Objektivation subjektiver Werte, vermöge der Distanzierung
zwischen dem unmittelbar genießenden Subjekt und dem Gegenstand. Analogie: der ästhetische Wert., S.
23-54.
gehörte den Vorbildern des damaligen literarischen Geschmacks. Er suchte
Rückhalt bei einer neuromantisch-impressionistischen Stilkunst noch zu einer
Zeit, als seine eigene Generation diesen Einfluß schon längst hinter sich gelassen
hatte.
19
Anfang 1916 erschien in der "Österreichischen Illustrierten Zeitung" Roths
Gedicht Wo?
Ich war einmal ein kleines Kind,
Das angstgequält zur Mutter floh,
Wenn durch den Schornstein fuhr der Wind---
Ich weiß nicht, wo...
Ich hab´einmal gehört ein Lied,
Das klang so zart und müde so,
Als ich von meiner Heimat schied---
Ich weiß nicht, wo...
Es hat einmal mein Herz gelebt,...
Mohnblumen brannten lichterloh,...
Ich hab´ einmal ein Glück erlebt...
Ich weiß nicht, wo...
20
Peter Szondi schließt sein Nachwort zu Walter Benjamins Städtebilder mit
folgendem Zitat: „Damals erzählte man sich unter den Emigranten die
Geschichte von dem Juden, der sich mit der Absicht trug, nach Uruguay
auszuwandern, und der, als seine Freunde in Paris darüber erstaunten, daß er so
weit weg wolle, die Frage stellte: 'Weit von wo?'“.
21
Wichtig zu betonen sind in diesem Gedicht folgende Schwerpunkte:
19
Michael Winkler, Gedruckt und ungedruckt. Joseph Roths Lyrik, a.a.O., S. 423.
20
I, 1101.
21
Walter Benjamin, Städtebilder, mit einem Nachwort von Peter Szondi, Suhrkamp Verlag, Frankfurt
a.M. 1955, S. 96-97.
- Der märchenhafte Ton, der gleich mit dem „Einmal“ eingeführt wird;
- Die Erwähnung des Windes, das nicht nur "die wunderschönsten
Geschichten erzählt", sondern auch mit dem Tod, wie es im Herbst steht,
verbunden ist;
- Das Lied, das beim Verlassen der Heimat gesungen wird und welches
das Herz des lyrischen Subjekts wiederbelebt, regt das Gefühl der Sehnsucht an.
Roths dichterisches Ziel ist das Erzählen dieses Liedes, das lyrische Erzählen der
Sehnsucht nach der verlorenen Heimat.
Der junge Roth sang also die Sehnsucht nach der untergangengen Heimat.
Brody lag an der Grenze zwischen Österreich und Rußland, die im Krieg um
Galizien kämpften. Brody lag also in der Mitte und war, fast symbolisch, gerade
der Vermittlungspunkt zwischen zwei Welten. Roth hatte 1913 Brody verlassen,
um nach Lemberg umzuziehen, wo er sich als Student immatrikulierte, bevor er
im folgendem Semester nach Wien weiterzog. Er war sich schon davon bewußt,
daß er Brody und das Kronland Galizien einmal für immer hinter sich ließ. Schon
vor dem Krieg wollte sich der anspruchsvolle Student in Wien auszeichnen, weil
er wohl wußte, daß die Hauptstadt, besser gesagt die Weltstadt Wien die
angemessenste Bühne für ihn wie für unzählige andere Ostjuden war.
Gleichzeitig aber hatte er begonnen, dieses Sichgeschiedenfühlen zu verarbeiten
und es in seiner poetisch gestalteten Sehnsucht umzusetzen.
Das andere Gedicht von 1916 ist Marschkompanie betitelt:
So war es noch nie,
Wie heute in jedem die Sehnsucht schrie,
Wie heute in jedem das Leben sang
Durch Trommelwirbel und Hörnerklang...
(...)
So war es noch nie,
Wie heute in jedem das Heimweh schrie...
(...)
So war es noch nie,
Wie heut in der Trommel die Sehnsucht schrie,
Wie heut in der Trommel das Leben sang,
Daß das Kalbfell sprang...
(...)
So war es noch nie,
Wie heut in der Trommel das Sterben schrie...
22
Sehnsucht, Heimweh und Tod. Roths Weltanschauung steht schon fest.
Sehnsucht nach dem Heim, die weh tut und Heim-weh verursacht, aus welchem
keine andere Erlösung möglich ist als das Sterben, als der Tod.
Wie schon oben erwähnt, schon als Schüler in Brody wollte Roth Dichter
werden. Dem Lieblingsonkel Willy Grübel schrieb er öfter von der Zukunft, die
er sich vorstellte, und fügte jedesmal ein Gedicht bei.
23
Der Stolz, den er darüber
empfand, Klassenprimus im Gymnasium zu sein, kann man aus einem Brief an
seine Cousine Resia, die in Lemberg wohnte, heraushören: „ Jedoch ist es noch
nicht so sicher, ob ich hinkommen werde, da ich letztens eine Privatlektüre
aufgegeben bekommen habe. Das kommt alles daher, daß ich ein Vorzugsschüler
bin, der mehr Verpflichtungen hat.“
24
Roth memorierte damals Dichtungen, z. B. versuchte er, längere Abschnitte
aus Goethes Faust fehlerfrei auswendig auszusagen. Er liebte Rilke und
Hofmannstahl und dachte, eine ganz besondere Affinität zu Heine zu fühlen. Das
spricht für ein stark ausgeprägten Einfühlungsvermögen, wohl auch für ein nicht
weniger starkes Anlehnungsbedürfnis, was von einem ambitionierten jungen
Dichter aus der Provinz durchaus zu erwarten ist.
25
Der Vorzugsschüler ist Roths erste veröffentlichte Erzählung, die im
September 1916 in der „Österreichs Illustrierten Zeitung“ zu lesen war. Als
Selbstbeschreibung gelten mehrere Absätze, zum Beispiel:
22
I, 1102.
23
Vgl. David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, a.a.O., S. 91.
24
Ebd., S. 83-84.
25
Michael Winkler, Gedruckt und ungedruckt. Joseph Roths Lyrik, a.a.O., S. 423.