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riesiger Widerspruch klaffte also kurz vor dem Ersten Weltkrieg
zwischen der industriellen Entwicklung und der Situation vom
Kino in Deutschland. Vom Krieg wurde viel erwartet , u.a. eine
rasche Entwicklung des neuen Mediums. Mit dem Krieg schlug
aber die ganze Situation um. Dadurch, daß die Grenzen gesperrt
wurden, mußten die deutschen Produzenten aus eigener Kraft den
Anforderungen des Inlandsmarkts entsprechen. Da diese
Anforderungen immer größer wurden, entstanden sehr schnell
neue Kinogesellschaften : von 13 (1913) stiegen sie auf 245
(1919). Das deutsche Kino hätte hier seinen Aufstieg anfangen
können . Die Schwierigkeiten erwiesen sich aber größer als
erwartet.
Einer der ersten deutschen Kinosäle wurde von Oskar
Messter eröffnet , einem Kinopionier in Deutschland . Um 1914
fing er an, neben Filmwochenschauen Propagandafilme vorführen
zu lassen, ganz im Einklang mit den Plänen der Regierung. Die
Regierung hatte sich nämlich zum Ziel gesetzt, die Kraft der
deutschen Wehrmacht zu beweisen .
Unter den zahlreichen Filmen, die zu dieser Zeit gedreht
wurden, sind einige besonders bedeutungsvoll , weil sie das
Publikum der Zuschauer schon im voraus mit Themen bekannt
machten, die für die Nachkriegszeit charakteristisch sein sollten.
Bereits 1913 drehte Paul Wegener „Der Student von Prag”, der
trotz seiner einfachen Mittel neue, eigentümliche Möglichkeiten
aufzeigte, eine innere Wirklichkeit zu gestalten. Der Reiz, den die
7
unerforschlichen Tiefen des menschlichen Ich ausüben, ist ja
schon eins der in der deutschen Filmkunst später
vorherrschenden Themen.
Mit dem Kriegsausbruch ging die deutsche Regierung zu
einem verstärkten, auf der Leinwand geführten Gegenangriff auf
die deutschfeindliche Propaganda über, die im Laufe der Jahren
immer mächtiger geworden war. Der Anführer war Hindenburgs
rechte Hand General Erich Ludendorff, der am 4. Juli 1917 einen
berühmt gewordenen Brief, der nachträglich als die eigentliche
Gründungsurkunde der Ufa gewertet wird, an das
Kriegsministerium in Berlin schrieb : «für einen glücklichen
Abschluß des Krieges» wäre es unbedingt erforderlich gewesen,
daß «der Film überall da, wo die deutsche Einwirkung noch
möglich ist, mit dem höchsten Nachdruck wirkt»
3
. Auch empfiehl
der General den Aufbau eines kräftigeren deutschen Filmkonzerns.
Auf Grund dieser Beratungen und mit der Unterstützung der
Deutschen Bank fand die Vereinigung der bis dahin vorhandenen
Filmgesellschaften statt : Emil Georg Stauß, der damalige Direktor
der Deutschen Bank, brachte 25 Millionen Reichsmark von
öffentlichen und privaten Geldgebern zusammen – als
Grundkapital für die am 18. Dezember 1917 entstandene Ufa
(Universum Film A.G.). Die Ufa sollte, so war ihr aufgegeben
worden, sich an die Richtlinien der deutschen Regierung halten,
d.h. nicht nur direkte Propagandafilme drehen lassen, sondern
3
Zitiert nach Hilmar Hoffmann, a.a.O., S.56
8
auch Filme, die die deutsche Kultur darstellten. Zuerst mußte man
aber das Produktionsniveau erheben.
Während sich in Amerika das Kino dem Publikum anpaßte,
war in Deutschland alles an den Anforderungen der Propaganda,
d.h. alles an den Krieg gebunden : das Publikum mußte sich hier
den Kriegsanforderungen und der kulturellen Politik der
Regierung anpassen. So fängt das Kino an, eine regelrechte
Industrie zu werden. Doch wurden das Trauma des verlorenen
Krieges und die massenhaft empfundene Schmach des Versailler
«Friedensdiktats» von Literatur, Theater, den bildenden Künsten
und vom Film erst am Ende der zwanziger Jahre zum Thema
erhoben. Um 1918-19 beherrschten noch Unterhaltungsfilme die
Leinwand. Gleich nach dem Krieg wollten die Deutschen sich
lieber Filme ansehen, in denen nicht Elend und Vernichtung
gezeigt wurden, sondern eher historische und vor allem erotische
Geschichten. Die Kulturprogramme der Republik hatten zunächst
Zerstreuung angesagt. Die Revolution war vergessen, und das
Leben ging wie vor 1914 weiter. Siegfried Kracauer
4
macht uns
darauf aufmerksam, wie oft und gewaltsam nach einem Krieg die
ursprünglichen Instinkte des Menschen in allen kriegführenden
Ländern wieder auftauchen. Die Natur selbst treibt die Menschen
dazu, nachdem sie jahrelang ausschließlich Tod und Zerstörung
kennengelernt haben. Trotz der Äußerungen Kracauers darf man
aber nicht vergessen, daß diese Tendenz in Deutschland schon vor
4
Siegfried Kracauer , Von Caligari zu Hitler , Suhrkamp , Frankfurt/Main 1979.
9
dem Krieg seine Vorläufer hatte, und zwar in den „weltlichen
Komödien” um 1910 , wo eine erotische und finstere Welt
auftaucht, die später den Filmen Stroheims eigentümlich sein
wird.
Für das Entstehen des großen deutschen Kinos während der
Nachkriegszeit wurde die wichtigste Rolle von der besonderen
Seelenverfassung der Deutschen gespielt , dem „Aufbruch”, wie
Kracauer schreibt : angesichts einer auf absolut neuen Ideen
beruhenden Zukunft hatte man sich von der zerstörten gestrigen
Welt entfernt . Eine so aufgefaßte Zukunft war zumindest , was
man sich gleich nach dem Krieg wünschte.
Es waren die Dadaisten, allen voran Apollinaire und Desnos,
die als erste die ungeheuren künstlerischen Möglichkeiten des
Mediums Film entdeckten. Sie schufen die Basis einer Ästhetik
des Films . Nun versuchte man die Leistungsfähigkeiten des
neuen technischen Mittels, der Kamera , auszunutzen, um eine der
reinen Phantasie entsprungene Welt wiederzugeben : auch
deswegen wucherten die phantastischen Filme besonders in der
ersten Nachkriegszeit . Zwischen 1913 und 1915 finden sich in
vielen Werken Szenen, die sich rational nicht erklären lassen : sie
bauen auf einem emotionalen Inhalt auf .
Doch der Hauptgrund dafür, daß man in einer
phantastischen Realität Trost suchte, lag in dem vor der realen
Welt empfundenen Grauen, die von den Grausamkeiten des
Krieges erschüttert worden war .
10
Expressionismus : von der Literatur zu der bildenden
Kunst und dem Film
Die Individualität des Künstlers war nicht mehr auf der
Suche nach einem objektiven Gleichgewicht in den äußeren
Verhältnissen, sondern stürzte sich kopfüber in das tiefste Innere
der individuellen Seele. Sie lehnt gegen jede traditionelle
Autorität des Lebens auf : die Kunst wird zum unvermittelten,
unmittelbaren, von den Expressionisten gegen eine verfallende,
halluzinierte und grauenhafte Umwelt ausgestoßenen Schrei . Die
Welt war schrecklich und der Expressionismus – nach Hermann
Bahr („Expressionismus”, 1920) – ein Hilferuf.
Der französische Filmhistoriker und -kritiker Marcel
Lapierre
5
geht so weit, den deutschen Expressionismus als neuen
Ausbruch der Romantik zu bezeichnen. Solch ein Vergleich ist
zwar unweigerlich übertrieben, aber man darf nicht übersehen, daß
viele Merkmale der romantischen Literatur in der Phantastik des
deutschen expressionistischen Films sichtbar werden. Bereits
große romantische Dichter (z.B. Achim von Arnim, Brentano)
hatten nämlich ihr Entsetzen vor der Beschränktheit des
Menschen gegenüber der Grenzenlosigkeit des Kosmos und der
Macht der Verhältnisse geäußert. Die Kinowerke der Zwanziger
5
Zitiert nach : Jerzy Toeplitz, Wurzel und Anfänge des Expressionismus im Film.
In: B. Frankfurter, Carl Mayer,Im Spiegelkabinett des Dr. Caligari, Promedia,Wien
’97, S.25
11
Jahre deuteten auf ihre Vorläufer der Romantik hin. In den
expressionistischen Filmen ist aber die Verwirrung vor der
Beschränktheit des Menschen viel größer, weil man sich zu der
Zeit von der Unfähigkeit , eine neue Welt zu schaffen, völlig
bewußt war . Solch eine Welt , die die andere hätte ersetzen
können , wird infolgedessen verzerrt und in ihren traditionellen
Werten umgestürtzt.
Die Romantiker wollten dann mit der Tradition brechen,
haßten die bürgerliche Gesellschaft ihrer Zeit und beteuerten die
absolute Macht des Ich über eine wiederaufzubauende Welt.
Diese Gesinnung kommt wieder in der Musik Schönbergs, in
den Werken Kokoschkas, Kandinskys, Meidners zum Vorschein.
Der Expressionismus entstand im ersten Jahrzehnt des 20.
Jahrhunderts, zunächst im Bereich der Malerei. Die
Impressionisten waren zur Zeit „en vogue” und wurden von den
neuen Malern als Feinde angesehen. Die neue Richtung, die unter
anderem an die Wurzeln der deutschen Tradition rührt, setzt
sich mit Gruppen wie «Der blaue Reiter », «Der Sturm», «Die
Brücke» durch, künstlerischen Gruppen , die sich als Ziel gesetzt
hatten, die Malerei von dem Gegenstand zu befreien. Die Werken
der expressionistischen Maler versuchten nicht mehr, Gefühle
nachzubilden, sondern wollten eher dem innersten Klang der
Dinge entsprechen. Vorläufer dieses neuen Trends gab es schon
am Ende des vergangenen Jahrhunderts : Vincent van Gogh,
Eduard Munch und James Ensor führten in ihre Malerei eine
Dramatik ein , die in Angstgefühlen, Halluzinationen, Horror- und
12
grotesken Elementen ausgedrückt wurde. Es handelte sich also
bei den jungen Malern um keine Reproduktion der äußeren Welt.
1916 schrieb der Kritiker und Schriftsteller Kasimir
Edschmid : «Die Realität muß von uns geschafft werden…es muß
das Bild der Welt rein und unverfälscht gespiegelt werden. Das ist
aber nur in uns selbst…Die Welt ist da. Es wäre sinnlos, sie zu
wiederholen…»
6
.
Von der Kriegsgefahr bis zur Niederlage Deutschlands
wurde der Expressionismus von dem Thema der «Apocalypse»,
der Zerstörung und der Katastrophe gekennzeichnet : von der
«Apocalypses» von Ludwig Meier bis zum «Golem» von Gustav
Meyrink, einem der wenigen expressionistischen Romane , die
geschrieben worden sind. Die Beschwörung des Todes ist ein
weiteres beliebtes Thema der Expressionisten , von den Bildern
Kokoschkas und Kubins bis zu den Gedichten von Georg Heym,
Gottfried Benn, Georg Trakl.
Das apokalyptische Entsetzen vor dem Tod geht wieder aus
der Angst, die die Stadt einjagt, hervor. Während Trakl uns die
Stadt als Agonie- und Todessymbol beschreibt, zeigen uns die
expressionistischen Filme das, was ihr am meisten eigentümlich
ist : die Straße. Insbesondere entdecken wir in diesen Filmen das
Berlin der Zwanziger Jahre, Treffpunkt Mitteleuropas mit seinen
Cafés, Cabarets, Dancings, mit all seinem Luxus, aber
6
Kasimir Edschmid, Über den Expressionismus in der Literatur, Berlin 1919.
13
gleichzeitig mit seinem Elend und seiner Dekadenz. Von Anfang
an war der deutsche Stummfilm ebenfalls von den Entwicklungen
in der Literatur und in der Malerei beeinflußt. Der Einfluß des
Expressionismus auf den Film kam aber nicht direkt von der
Malerei, sondern eher von der Literatur. Film ist von Natur aus
narrativ, und sein Thema ist das Schicksal, das Tun und Lassen
ausgewählter Personen. In der Malerei tauchte so etwas selten auf,
denn man gab dem landschaftlichen Aspekt den Vorrang, der
Natur eher als dem Menschen . Es waren die Schriftsteller, die
sich zunächst für ein politisches und soziales Programm
interessierten. Die meisten von ihnen waren nämlich Reformer
oder Revolutionäre und versuchten -so wie die anderen Künstler-,
ihre eigene Welt zu schaffen, mit einem klaren Zweck : die
Veränderung der bestehenden Traditionen und Formen des
sozialen Lebens in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg.
In der Nachkriegszeit war den Vorläufern völlig klar,
worum es ging : «wegzukommen vom Vorbild der Literatur und
von der Dramaturgie des Theaters, die den Schauspieler ins
Zentrum des Geschehens zu stellen trachtete. Man hatte
verstanden, daß einzig das Bild sprechen sollte. Aber noch wußten
sie nichts von dem dynamischen Schnitt, von einem […]
Bilderfluß, der aus sich selbst heraus das Geschehen erklärte ; man
wurde noch durch die Texten gehemmt, die man immer wieder
14
einschieben mußte und die den Gesamteindruck der Bilder
sprengten»
7
.
Der Filmexpressionismus entsteht von der Bühnenbildnerei,
die, als Reinhardt noch tätig war, in den Berliner Theatern
benutzt wurde, und die ihrerseits von der expressionistischen
Malerei hervorgeht. Max Reinhardts theatralische Produktionen
benutzten ein Bühnenbild, das trotz seiner übermäßig verzerrten
und stilisierten Elemente den Seelenzustand der Protagonisten ins
Bewußtsein brachte. Doch blieb der Filmexpressionismus immer
die Schaffensphase einer deutschen, heterogenen Gruppe ohne
manifestes Programm. In ihm sind die Verzerrungen und die
Alptraumsuggestionen erkennbar. Lotte H. Eisner schreibt
8
, die
schrägen Linien hätten die Aufgabe, Beunruhigung und Entsetzen
entstehen zu lassen. Diese Bemerkungen führte sie aus, nachdem
sie den ersten als „expressionistisch“ bezeichneten Film, bzw. die
Filmarchitektur, die Hermann Warm, zusammen mit Reimann und
Röhrig, für ihn baute, gesehen hatte : auf einer Leinwand wurden
sogar die Schatten nach den Richtlinien des Expressionismus
bemalt. Es handelt sich um „Das Kabinett des Doktor Caligari“
(1919) von Robert Wiene, einen von der Atmosphäre einer Zeit
des Zusammenbruchs und der Revolution geprägten Film. Ein
Rausch von Mordlust, Blut und Dämonie stürmt durch die Bilder.
Der Film zeigt das „Nacht-Ich“ eines Menschen, das in
7
Peter Weiss, Avantgarde Film, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1995, S. 13.
8
Lotte H. Eisner, Die dämonische Leinwand, Kommunales Kino,
Frankfurt/Main,‘75
15
schlafwandlerischem Zustand von einer Autoritätsfigur auf
Mordtaten ausgeschickt wird. Es ist ein krankes Ich, das nach
seiner Identität sucht. Die beiden Autoren des Films, Carl Mayer
und Hans Janowitz, wollten «die Absurdität einer asozialen
Autorität brandmarken», wie Lotte Eisner beobachtet hat. Man
darf aber nicht vergessen, daß beide Autoren – Mayer und
Janowitz – keine Verbindung mit den expressionistischen Zirkeln
hatten. Sie hatten auch nicht die Absicht, einen expressionistischen
Film zu schaffen. Nach der von Kracauer aufgestellten These
sollte die Figur von Caligari die Autorität der Kriegsregierung
darstellen, die den normalen Menschen (Francis, den
Schlafwandler, den Caligari ausnutzte, um seine Verbrechen zu
begehen) zum Mord anstiftet. Aber Wiene schuf um die ganze
Geschichte einen Rahmen, der den Sinn völlig verdrehte . Zu
Anfang sollte „Das Kabinett des Dr. Caligari“ den an der
Autorität anhaftenden Wahnsinn hervorheben, doch am Ende
verherrlichte Wienes Version die Autorität, indem sie den
Wahnsinn ihres Gegners zeigte. In Wienes Absicht sollte nun das
Werk den Strebungen und Gefühlen der weniger gebildeten
Leute , eher als denen der ‚Intelligenzija‘, entgegenkommen. Jerzy
Toeplitz gehört zu den wenigen Filmkritikern, die behaupten,
«trotz aller Änderungen» wäre «dieser außerordentliche Film kein
Verrat an den Intentionen der Drehbuchautoren». Der Film würde
im Gegenteil «die Vision einer anderen Welt, […] einen Alptraum
von unglaublich dramatischer Kraft »
9
auf die Leinwand bringen.
9
Jerzy Toeplitz, a.a.O., S. 26
16
Die Malerei und die Literatur des Expressionismus, obwohl
sie schon vor dem Krieg bekannt waren, fanden ein richtiges
Publikum erst nach 1918. Im „Caligari“ finden wir Themen, die
bereits einige Jahre früher bei den Malern beliebt waren :
schräge oder spitze Dächer, keine Perspektive, ganz hohe und
gewundene Treppen, enge und dunkle Gassen , die typisch für jene
von E.T.A. Hoffmann so eindrucksvoll geschilderte ‚Zwischen-
welt‘ sind. Mit dem Werk von Wiene fangen die technischen
Eigentümlichkeiten des deutschen Kinos an, sich abzuzeichnen,
wie z.B. die Tatsache, daß die Filme nun lieber im Atelier gedreht
wurden, oder daß die äußeren Landschaften im Atelier
rekonstruiert wurden . Man zog es vor, über eine künstliche Welt
zu herrschen, als sich von einer dem Zufall überlassenen
Außenwelt umstürzen zu lassen. Kracauer hat ganz oft
beobachtet, daß die Deutschen sich aus diesem Grund im Atelier
einschließen wollten : das bedeutete für sie nichts anders, als die
Suche nach einem Schutz. Doch die Theorien Kracauers sollten
manchmal mit Vorsicht genommen werden, weil, wenn er zwar
das Phänomen des Kinos seiner Zeit mit äußerst klarem Verstand
beurteilte, hatte er doch als Hauptziel, seine Idee zu beweisen. Er
war nämlich überzeugt, daß „Das Kabinett des Dr. Caligari“
zwanzig Jahre Geschichte, und nicht nur Kinogeschichte,
angebahnt hatte. Seiner Meinung nach war der deutsche
Stummfilm eine Vorahnung der nazistischen Verbrechen.
Jedenfalls waren im Atelier Architektur, Dekor,
Beleuchtung und Schatten aktive Partner der Protagonisten, die
17
gemeinsam die suggestive Atmosphäre des Irrealen erzeugten, in
der Ängste, Visionen und Symbole äußerst wirksam vermittelt
wurden. Wie gesagt, nicht das Sichtbare, sondern das Immaterielle
sollte sichtbar gemacht werden. Deswegen wurden im „Caligari“
so ungewöhnliche, mit verzerrten Perspektiven und mit auf die
Studiokulissen gemalten Schatten benutzt. Nicht die Logik
überzeugt, sondern die Wirkungen, die diese ganze Verzerrung in
den Zuschauern entstehen läßt. Wiene schuf einen völlig neuen
Filmstil, der später „Caligarismus“ genannt werden sollte.
Um 1920 erlebte das deutsche Kino eine „Krise des
Realitätsgefühls“, wie Roberto Paolella sie nennt
10
, die die ganze
deutsche Kinoproduktion kennzeichnet. Bis dahin war es möglich
gewesen, entweder die Außenwelt genauso darzustellen, wie sie
sich uns zeigt, was schon die Franzosen und die Amerikaner getan
hatten, oder sie mit der Phantasie zu verändern. Für die zweite
Möglichkeit entschieden sich die Deutschen, wie es schon früher
Méliès getan hatte. Das Kino war für sie das geeigneste Mittel ,
die Außenwelt anzugreifen. Deswegen gilt nun der Gesichtspunkt
derjenigen, die hinschauen. Die unbelebten Gegenstände gewinnen
eine ihnen vorhin unbekannte, menschliche Bedeutung, und die
Natur wird im Atelier rekonstruiert, wie oben vorhin angedeutet.
Die schreckliche Krise der Nachkriegszeit übte auf das Entstehen
solch eines Kinos einen riesigen Einfluß aus.
10
Roberto Paolella, Storia del cinema muto, Giannini, Napoli 1956.