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1. Einleitung
„Di donne fatali ce ne sono state sempre nel mito e nella letteratura, perché mito e
letteratura non fanno che rispecchiare fantasticamente aspetti della vita reale, e la vita
reale ha sempre offerto esempi più o meno perfetti di femminilità prepotente e
crudele.“1
Das Motiv der dämonischen Verführerin durchzieht die gesamte Weltliteratur seit der
altbabylonischen Zeit, wie die biblischen Beispiele von Eva, Dalila, Judith und Salome
nachweisen. In der abendländischen Kultur hat die Gestalt der Femme fatale
unterschiedliche Bedeutungen; sie steht als Symbol für Traum, Angst und Tod. Als
sinnliche Verführerin ist sie für den Mann eine gefährliche Frau, die durch ihre
Verführungsmacht eine zerstörerische Kraft über ihn ausüben kann. Schön,
faszinierend, grausam, begehrt und gehasst, ist sie die Verkörperung der Sexualität, das
Emblem der sinnlichen Liebe, der Leidenschaft und des Instinkts. Sie stellt ein Gebiet
der Seele dar, wo die Vernunft und der Intellekt nicht mehr regieren, sondern wo die
Irrationalität, die Triebe und die archaische Nacht vorwiegen.
Sie ist die Äußerung einer Natur, die nicht komplett vom Mann dominiert werden kann.
Hinter ihr versteckt sich der Geist einer urweltlichen Großen Mutter, die gleichzeitig
wohlwollend und grausam ist und die fasziniert und vernichtet.
1899 schreibt Sigmund Freud Die Traumdeutung, wo klare Merkmale der an
Geschlechtsangst leidenden Kultur der Epoche auftauchen: die Frau ist die Gefahr, sie
verkörpert die natürliche „Unordnung“; sie ist die Hüterin von Urgeheimnissen, eine
untreue und sinnliche Natur, in der „fascinum“ (ästhetischer Vergnügen) und
„tremendum“ (negative Gefühle) miteinander verschmelzen. Genau zu der Zeit fordert
die Frauenbewegung die Emanzipation der Frau und die Gleichheit der Geschlechter
allerdings ist die derzeitige Gesellschaft noch von einem anachronistischen
Puritanismus durchdrungen und es entwickelt sich ein uneingestandenes Angstgefühl,
das sich in der literarischen und bildlichen Darstellung der Femme fatale sich
widerspiegelt.
Die Femme fatale ist eine der Protagonistinnen par excellence der Literatur und der
Ikonographie des Dekadentismus. Sie lässt sich nämlich in der nachromantischen
1
Mario Praz: La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica. Milano: Sansoni 1996. S. 165.
6
Literatur und in der modernen Kunst gut begreifen. Das Bild der Femme fatale steht im
Laufe der Zeit immer unter neuen Metamorphosen und ist von Ambivalenz und einem
chimärenhaften Charakter gekennzeichnet. Sie stellt sich in unterschiedlichen
Erscheinungsformen vor und repräsentiert die permanente Verführung, die ebenso sehr
gewünscht wie gefürchtet wird.2 Es ist zu betonen, wie die Figur der Femme fatale im
Besonderen auf Visualisierung angewiesen ist. Carola Hilmes behauptet: „die
Interdependenz von Malerei und Literatur ist für sie von besonderer Bedeutung.
Während auf einem Bild eine einzelne Szene dargestellt wird und der Betrachter sich
seine Geschichte der Femme fatale imaginieren kann, steht eine literarische Bearbeitung
vor dem Problem, einen möglichst konsistenten Handlungszusammenhang herstellen zu
müssen. Die Geschichten der Femme fatale sind verräterisch, weil sie sich nicht
beschränken können auf die für das Klischee typische Situation der Übermächtigung
eines Mannes durch weibliche Sinnlichkeit.“3
Die Gemeinsamkeiten der mehreren unterschiedlichen Erscheinungsformen der Femme
fatale manifestiert sich in der patriarchalisch-mysogenen Bestimmung des Weiblichen
als ein widersprüchliches und diffamierendes Konstrukt mit selbstzerstörerischer
Funktion.4 Die gesamte Femme fatale Tradition thematisiert nämlich, wie kaum eine
andere, den Kampf der Geschlechter. Die Femme fatal bildet eine Macht- und
Freiheitsphantasie, ihre Wirkungsmacht schafft aber kein mögliches emanzipatorisches
Lebensmodell für Frauen. Sie bezeichnet nur eine charakteristische Imagination des
Weiblichen der Jahrhundertwende, die zum Scheitern verurteilt ist, was erhalten bleibt,
ist die Schönheit der Bilder als utopischer Rest. Alle Varianten der Femme fatale sind
Außenseiter, deren fundamentales Anderssein die Bedingung ihrer Existenz und ihres
schauerlichen oder lasziven Reizes ist.5
Diese Arbeit will das sogenannte Frauenbild im Bereich der Literatur und bildenden
Kunst des Fin de siècle zu untersuchen und den besonderen Zusammenhang, der
zwischen diesen beiden künstlerischen Gebieten in der Darstellung dieser Ikone besteht,
zu beleuchten; Es werden zahlreiche Beispiele aus der englischen, französischen und
2
Carola Hilmes: Die Femme fatale : ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart:
Metzler 1990. S. XIV.
3
Ebd. S. XIII.
4
Ebd. S. 248
5
Claudia Balk: Theatergöttinnen. Inszenierte Weiblichkeit: Clara Ziegler, Sarah Bernhardt, Eleonora
Duse. Basel-Frankfurt am Main: Stroemfeld/ Roter Stern 1994. S. 65.
7
deutschen Literatur und bildenden Kunst gebracht, um die gegenseitigen Einflüsse und
Gemeinsamkeiten aus Sicht eines Tertium Comparationis klarzustellen.
2. Die Femme fatale: Begriffdefinition
Die Femme fatale gilt als kulturelles Motiv, das eine widersprüchliche
Weiblichkeitsdarstellung in der abendländischen Kultur bezeichnet. Dem Terminus ist
vielen Veränderungen im Wandel der Zeit unterzogen worden. Der aus dem
Französischen kommende Name Femme fatale steht für „verhängnisvolle Frau“. Dieser
Frauentypus ist vor allem durch seine duale Wirkung auf Männer zu charakterisieren.
Für Männer erscheint eine Femme fatale offensichtlich als attraktive, verführerische und
kluge Frau. Sie ist anders, indem sie sich über gesellschaftlich geltende Normen
hinwegsetzt und den Mann so in einen erotischen Bann zieht. Aber auch das
Bedrohliche, die Gefahr, die von ihr ausgeht, bleibt keineswegs unbemerkt. Nur ist dies
für den Mann, wenn er ihr erst einmal verfallen ist, kaum noch realisierbar. Der von der
Hoffnung auf Liebeserfüllung benebelte Mann wird von der Femme fatale manipuliert
und ausgenutzt, was im fatalen Ende meist mit dem Tod des Mannes gipfelt. Nach
dieser allgemeinen Definition bleiben allerdings noch etliche Fragen offen über die
Untersuchung dieser Gestalt: „One of those uncertainties is the fact that the origin of the
generic term ‚femme fatale’ is not clear even today. The term was non-existent during
her Romantic and Victorian zenith. It has been applied retrospectively since around
1900, while the majority of female figures subsumed under it appears earlier than that.
As a result, the name has been used excessively in many older studies from the 1970s.“6
Demzufolge gibt es eine Reihe von Definitionen, die die Typologie der Femme fatale zu
bestimmen versuchen. So fasst Gerhard Damblemont zusammen: „Der Grand Larousse
schreibt: ‚femme fatale qui attire irrésistiblement et qui semble envoyée par le destin
pour perdre ceux qui en sont épris’. Robert und Le Trésor de la Langue française
betonen die Offenheit der Verbindung von femme und fatale, welche sie gemeinsam mit
beauté fatale definieren. Wir lesen bei Robert: ‚Une femme fatale, une beauté, qui
semble envoyée par le destin pour attirer irrésistiblement et perdre ceux qui
6
Silke Binias: Symbol and Symptom. The Femme Fatale in English Poetry of the 19th Century and
Feminist Criticism. Heidelberg: Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg. S. 33.
8
l’approchent’. Im Trésor de la langue française heißt es: ‚Femme, beauté fatale.
Envoyée par le destin pour perdre ou, plus communément, séduire ceux qui
l’approchent.’“.7
Es ist wichtig zu bemerken, dass keine klare Festlegung der Femme fatale gegeben
wird. Sie wird niemals theoretisch begründet, sie drängt als Faszinosum in die Künste
ein, sie trägt viele Namen und äußert sich in sich ständig wandelnden
Erscheinungsformen. Es lässt sich in diesem Sinne weder einen richtigen Prototyp der
Femme fatale angeben noch eine differenzierte Typologie der Femme fatale-Gestalten
erstellen, jedoch lassen sich ‚Familienähnlichkeiten’ des Typus herausarbeiten.
So resümiert Hilmes die Merkmale dieses Typus: ,,Die Femme fatale lockt, verspricht
und entzieht sich. […] Sie bezeichnet ein brüchig gewordenes Bild des Weiblichen, das
seine Widersprüchlichkeit offen zur Schau trägt. […] Mit der Femme fatale wird ein
Weiblichkeitsbild entworfen, das in einem für alle Beteiligten problematischen
Spannungsverhältnis von Eros und Macht angesiedelt ist. Zwar wird zentral die dem
Mann Verderben und Tod bringende Macht weiblicher Sinnlichkeit thematisiert, die
Vorstellung von der Femme fatale als der übermächtigen und durch ihre Sexualität
vernichtenden Frau muss allerdings dahingehend zurechtgerückt werden, dass sie
Handlungs- und Motivationszusammenhang der Geschichten außer Acht lassend, sich
nur auf die Situation der Übermächtigung des Mannes durch eine schöne Frau
konzentriert.“8
Die Femme fatale zeigt sich als heuristischen Begriff sehr produktiv. Die ‚Artenfülle’
ist aber verwirrend, da sie in dichterischer Projektion vielerlei Funktionen wahrnehmen
kann: Sie kann nämlich zugleich prostituée, femme entretenue, courtisane, femme
galante, séductrice, femme supérieure und femme-démon, d.h. ursprüngliche Fee,
allerdings diabolisiert, sein.9
Zum Fin de siècle nimmt die Femme fatale sogar mythische Züge an. Christine Mundt-
Espìn präzisiert: „Das Schönheitsideal der Femme fatale ist natürlich dem
Zeitgeschmack unterworfen. Es dominieren tief schwarzes bzw. blondes Haar. Immer
ist es ein Blumengeschmückt. Der Blick hinter einem Schleier verborgen, ist sie ein
7
Gerhard Damblemont: La féminité dévorante: Nana, Renée, Salomé, Lilith und ihre Schwestern im
französischen Fin de siècle-Drama. In: Jürgen Blänsdorf: Die femme fatale im Drama. Heroinen-
Verführerinnen- Todesengel. Tübingen: Francke Verlag 1999. S. 82.
8
Carola Hilmes. S. XII, 9-10.
9
Christine Mundt-Espìn: Mit Musidora und Melusine gegen Medea: Frauen im Theater des
französischen Surrealismus. In: Jürgen Blänsdorf. S. 93.
9
gefährliches Faszinosum. Die Femme fatale ist eine manieristische Gestalt. Schmuck
trifft oft an die Stelle der Kleidung. Schleier umspielen sie. Tanz und Ausdruckstanz
gehören zu den wichtigsten Mitteln der Verführung. Die Femme fatale wird dem Mann
zur Gefahr.“10
Demgemäß A Dictionary of Symbols von S.E. Cirlot stellt die Femme fatale „three basic
symbolic aspects of woman: she is a siren, a Lamia or a monstrous being who enchants,
diverts, and entices men away from the path of evolution“ dar .11
Man kann außerdem zwischen Physiologie und Persönlichkeit, anatomischem Äußeren
und psychologischem Inneren der Femme fatale unterscheiden. Sie ist von einem
ebenmäßigen Äußeren charakterisiert: Sie ist jung und fit, sie hat rubinrote sinnliche
Lippen und trägt häufig lange Zöpfe, das Haar gilt nämlich als erotisches Symbol und
Falle. Sie ist eine tödliche Frau, weil sie nicht nur körperliche, sondern auch spirituelle
Kontrolle von ihren Liebhaber-Opfer verlangt. Sie entzückt und hat gleichzeitig die
Macht zu töten: „So wie die Femme fatale bereits durch ihren Namen als eine ihren
männlichen Gegenspielern Verderben bringende Figur bestimmt ist, so lassen sich die
ihr zugeschriebenen widersprüchlichen Eigenschaften und die über sie erzählten, sehr
unterschiedlichen Geschichten sinnvoll nur begreifen über den notorisch tödlichen
Ausgang, bei dem ein Mann zum Opfer der sinnlichen Reize einer Frau wird.“12
Allerdings, beobachtet Binias bei dem Fall einiger Femme fatale-Figuren: „But what
about Pandora? Medusa? Medea? They are the ones who are dead in the end. […]
Hence a fatale woman can kill. But she can also be killed. And sometimes, neither her
or the victim are killed (for instance Ulysses, Tannhäuser or the keatsian knight-at-
arms). This exhausts all possibilities“.13
Man kann so schließlich zusammenfassen: Die Femme fatale ist zugleich zuviel
Schönheit, Sex, Reiz und damit zu wenig Herz, Verstand, Seele und Emotionen
verbunden. Sie ist eine erotische Ikone und wird als Antagonistin der Femme fragile
entgegenstellt. Für ihre Charakterisierung sind sowohl die Assoziationen von Macht und
Sexualität als auch Zerstörung und Tod wichtig.
Sie verkörpert Eros und Thanatos und stellt den Stereotyp der gefährlichen weiblichen
Sexualität per Antonomasie dar. Sie personifiziert die direkte Inversion von der
10
Christine Mundt-Espìn. S. 93.
11
Silke Binias. S. 36.
12
Carola Hilmes. S. 10.
13
Silke Binias. S. 37.
10
Unausgeglichenheit der Macht zwischen den Geschlechtern: die sogenannte ‚falsche’
Art von Asymmetrie in männlich-weiblichen Verhältnissen. Folglich ist sie ein Klischee
von allem, das negativ bewertet werden kann beziehungsweise wird. Es genügt nicht sie
nur als erotische Ikone zu charakterisieren, da sie auch eine Ikone der weiblichen Macht
repräsentiert. Sie ist verführerisch und zerstörerisch und genau diese Ambivalenz macht
sie zu einer Femme fatale.
Sehr bedeutsam scheint auch als Schlussfolgerung die Haltung von Binias zu sein: „the
femme fatale not as real but as psychological construct. As such as generalised, clichéd
illustration and projection of the interplay of male fantasies and anxieties, she either
employed to rationalise the ambivalent allure of female sexuality or to support and
reaffirm the necessity of a male-dominated society, since she is ultimately conceived
within the social canon of norms and ethics.“14
2.1 Frauenmythos
„La douceur qui fascine et le plaisir qui tue“,15 so schließt Baudelaire in einem Vers den
Abgrund des gefangenen und sogleich verlorenen Blickes einer Frau in der Menge der
Großstadt. Klar ist hier die Verknüpfung von Eros und Thanatos, damit deutet
Baudelaire auf jenes obskure Lustobjekt hin, das um die Jahrhundertwende in die
privaten beziehungsweise öffentlichen Fantasien der europäischen Intelligenzija, in die
Seiten der Romane und der Libretti und in die Gestalten der Malerei und der Skulptur
immer mehr obsessiv eindringen wird.
Wir sind alle vertraut mit den literarischen und künstlerischen Porträts der sinnlichen
Verführerinnen und ihren doppelsinnigen Appeal von Entzücken und Gefahr als eine
universelle und grundlegende Konstante des abendländischen Kanons. Das Bild dieser
Frau ist allmählich ein anerkannter ästhetischer Typ, eine kulturelle Ideologie der
Weiblichkeit geworden, ohne die wir uns die Kunst und die Literatur von heutzutage
uns nicht vorstellen könnten.
14
Silke Binias, S. 39.
15
Charles Baudelaire: Á une passante. In: Les Fleurs du Mal. Paris: Librairie Générale Française 1999. S.
145.