Das deutsche und italienische Wohlfahrtsstaaten-Modell: Konservative Regime? Analyse der Gesundheitssysteme im Vergleich
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Welfare Capitalism , in dem die wichtigsten kapitalistischen konomien in drei
Wohlfahrtsregime eingruppiert werden.6 Es stellt sich die Frage: Kann das
italienische Sozialsystem, aufgrund seiner landesspezifischen sozio-historischen
Charakteristiken, gemeinsam mit dem deutschen Wohlfahrtssystem als
konservatives Regime7, nach der Esping-Andersens Klassifizierung, eingestuft
werden? Die folgende Arbeit wird sich mit dieser Fragestellung intensiv besch ftigen.
Im zweiten Kapitel erh lt der Leser einen allgemeinen berblick ber die
europ ische Geschichte des Wohlfahrtsstaates und b er die historischen und
soziologischen Hintergr nde, die zur Entwicklung un d Durchsetzung der Wohlfahrt in
Europa gef hrt haben. Im dritten Kapitel wird sich diese Arbeit mit der m glichst
ausf hrlichen Darstellung der Konzeption Głsta Espi ng-Andersens The three worlds
of welfare capitalism 8, insbesondere mit seinen drei Typologien der wohlfahrts-
staatlichen Regime9, sowie mit der Erl uterung der De-Kommodifizierung und
Stratifizierung10 als Wohlfahrtsindikatoren besch ftigen. Von vorder gr ndigem
Interesse werden die Methoden und die Gr nde sein, nach denen Esping-Andersen
das deutsche und italienische Wohlfahrtsregime als konservativ eingestuft hat.
Danach wird die Kritik verschiedener Autoren dargelegt. Im vierten Kapitel werden
zwei Klassifizierungsmodelle des Wohlfahrtsstaates von Ferrera und Trifiletti
vorgestellt, die ebenfalls der Sichtweise von Esping-Andersen widersprechen.
Nach einem berblick ber die Komplexit t des Inter nationalen Vergleiches und
dessen Bedeutung im f nften Kapitel , wird es im sechsten Kapitel um eine kurze
Darstellung der jeweiligen Sozialsysteme mit Fokus auf das Gesundheitssystem
gehen. Zur Analyse der jeweiligen Gesundheitswesen werden bestimmte Indikatoren
ausgew hlt, anhand derer die beiden Systeme analysi ert werden. ber welche
sozialen Absicherungssysteme verf gen Italien und D eutschland? Auf welchen
Ans tzen basieren sie? Welche ˜hnlichkeiten und Unt erschiede weisen sie auf? Ist
es realistisch, dass die beiden Wohlfahrtssysteme zusammen eingestuft werden?
Anhand des Beispiels der Gesundheitssysteme in Italien und in Deutschland wird
diese Arbeit die Klassifizierung von Esping-Anderson in Frage stellen.
6
Vgl. Schubert/ Hegelich/ Bazant (2008), S.13.
7
Vgl. Lepperhoff (2004), S. 31.
8
Esping-Andersen (1990).
9
Vgl. Burzan (2008), S. 112.
10
Vgl. Esping-Andersen (1990), S. 55.
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2 Der Wohlfahrtsstaat
Im folgenden Kapitel wird auf die Definition des Begriffes Wohlfahrtsstaates
eingegangen und es wird ein berblick auf die sozio -historische Entwicklung in
Europa gegeben. An dieser Stelle soll von einer R c kschau auf die Ans tze der
vergleichenden Wohlfahrtsforschung abgesehen werden.
2.1 Definition des Wohlfahrtsstaates
Es existiert keine allgemeing ltige Definition des Begriffes Wohlfahrtsstaat 11.
Carsten bezeichnet den welfare state als Gesamtheit der als wohlfahrtsstaatlich
(bzw. sozialpolitisch) definierten Institutionen und Politiken. Als wohlfahrtsstaatlich
k nnen dabei ganz allgemein Institutionen bezeichne t werden, wenn sie, erstens,
Funktionen der Existenzsicherung, der sozialen Sicherung und der Gew hrung von
Chancengleichheit f r alle oder einen Teil ihrer Ad ressaten unmittelbar erf llen und
wenn, zweitens, diese Funktionen berwiegend, oder zumindest zu einem
bedeutenden Teil, von staatlichen oder ffentlichen Instanzen erf llt werden 12. Diese
Definition dient als Grundlage dieser Arbeit.
F r die soziale Absicherung gegen klassische und mo derne soziale Risiken ergreifen
die Staaten grundrechtlich basierte sozialpolitische Ma nahmen. Diese umfassen
alle Felder des gesellschaftlichen Zusammenlebens von der Regulierung des
Marktes und Arbeitsmarktes bis zur Familien-, Wohnungs-, Jugend-, Gesundheits-
und Einkommensumverteilungspolitik, einschlie lich der F rderung des Wirtschafts-
wachstums. Die sozialpolitischen Ma nahmen schr nke n die Wohlstandsdifferenzen
zwischen sozialen Milieus und geografischen R umen ein und fungiert als Kontroll-
und wom glich als Verhinderungsinstrument sozialer Konflikten.13
11
Barr definiert den Wohlfahrtsstaat als Die Rolle des Staates bei der Bereitstellung von Leistungen
der Einkommenssicherung und soziale Dienstleistungen . Kaufmann seinerseits als (...) eine
Auspr gung demokratischer industrieller Gesellschaf ten, die kapitalistisch organisiert sind, in denen
aber der Staat eine grunds tzliche Wohlfahrtsverant wortung f r seine B rger bernimmt . Zitiert nach
Lohmann (2007), S. 22.
12
Carsten (2008), S. 77 f.
13
Vgl. Agostini (2005), S. 1 ff.
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2.2 Die Geschichte der europ ischen Wohlfahrtsstaat en -
eine Einf hrung
Der Wohlfahrtsstaat entstand aus der Notwendigkeit, den Folgen industrieller und
kapitalistischer Widerspr che entgegenzuwirken. 14 In Deutschland und Italien galt
es, den sozialen Frieden, der von strukturellen bzw. politischen Ungleichheiten
bedroht war, durch soziale Grundsicherungsformen zu gew hrleisten. 15
Deutschland, unter der Regierung von Bismarck, war der erste Staat, der ein
(obligatorisches) Sozialversicherungssystem einf hr te. Dieses System war
haupts chlich daf r vorgesehen, die Industriearbeit er vor den Modernisierungs-
problemen zu sch tzen. Es diente als Instrument der Risikostreuung innerhalb einer
bestimmten, mehr oder weniger homogenen, Arbeiterkategorie. Die Soziallleistungen
entsprachen den eingezahlten Beitr gen. 16 W hrend des zweiten Weltkrieges wurde
der Beveridge-Report (1942) eingef hrt, ein neues soziales Absicherungssystem
(social security),17 welches alle B rger ber cksichtigte. Dieses garant ierte ein
Einkommen f r die aktive Bev lkerung und eine Ges undheitsf rsorge f r alle
B rger als Staatsb rgerschaftsrecht. Es wurde eine Schwelle f r ein w rdiges Leben
festgelegt. Unabh ngig von den eventuell eingezahlt en Sozialbeitr gen, war diese
Absicherung f r alle garantiert. Dieses System gilt als Grundlage des Aufbaus des
sozialen Absicherungssystems in Gro britannien w hr end der Nachkriegszeit.
Schweden f hrte 1946 in diesem Sinne die Volkspens ion ein.18 Ein Recht, das vom
Besch ftigungsstatus und von Rentenbeitr gen absah. Das schwedische Beispiel
verbreitete sich in D nemark, Finnland und Norwegen . In Nordeuropa zeichnete sich
ein grunds tzliches universalistisches Sozialsystem ab. Die Revanche des
Bismarck-Modells riss sich um den ‘50er und ‘60er J ahr um. Dies geschah, als die
14
Nach der franz sischen (1789) und der industrielle n Revolution (19.Jahrhundert) findet eine
schrittweise Umwandlung der Struktur der westlichen Nationalstaaten und ihre allm hliche, aber
unwiderrufliche Entwicklung in eine Massendemokratie statt. Der Kapitalismus dominiert als
Produktionsphilosophie. In dieser Phase war man Zeuge von tiefgreifenden ˜nderungen der sozialen
Strukturen. Dieser Prozess f hrt in wenigen Jahrzeh nten zu einem radikalen Wandel der
Lebensweise. Die Beziehungen zwischen den sozialen Klassen mutieren. Mit dem Aufkommen der
industriellen Gesellschaft konkretisiert sich der kapitalistische Begriff der Arbeit als Ware 14. Es
konfiguriert sich eine starke Abh ngigkeit des Indi viduums vom Markt. Das B rgertum erlangte
zunehmend Macht. Vgl. Kraus/ Geisen (2001), S. 23 ff.
15
Vgl. Esping-Andersen (1989), S. 39 f.
16
Vgl. Ferrera (1993), S. 52 ff.
17
Siehe hierzu Ferrera (1993), S.58.
18
Vgl. Ferrera (1993), S. 58 ff.
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anglo-skandinavischen L nder in ihrem Sozialsystem, universalistische L sungen in
beitragsabh ngige Leistungen integrierten. Die sozi ale F rsorge, die Sozial-
versicherung und das soziale Absicherungssystem und deren Mischvarianten stellen
die Hauptmodalit ten der wohlfahrtsstaatlichen Inte rventionen dar. Auf dieser Basis
k nnen die bedeutsamsten typologischen Abgrenzungen unter den verschiedenen
Staaten durchgef hrt werden. 19 Die verschieden sozio-historisch gepr gten
Wohlfahrtsstaaten und deren Umsetzung k nnen durch die diversen entwickelten
Vergleichsmodelle gegen bergestellt werden. Durch d ie Analyse der Sozialpolitik
wurden in den letzten Jahren vier Grundmodelle des Wohlfahrtsstaates entworfen:
Das sozial-demokratische, das liberale, das korporatistische und das mediterrane
Modell. 20
3 Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
von Głsta Esping-Andersen
Bevor man sich der Analyse der drei Welten nach Głsta Esping-Andersen widmet,
ben tigt man eine bersicht ber seine angewandten Methoden, Vorgehensweisen,
Begriffe und Indikatoren, die ihm bei der Untersuchung als Grundlage dienten.
3.1 Einf hrung
Die Klassifizierung der westlichen Wohlfahrtsstaaten in drei gro en Regime nach
Esping-Andersen und das Instrumentarium, auf denen die Analysen basieren,
fungiert auch heute noch als Anregung f r eine lebe ndige Auseinandersetzung mit
der Analyse und Kritik sozialstaatlicher Vergleiche. Esping-Andersen definiert die
wohlfahrtsstaatlichen Regime als jene intentionelle Arrangements, normative Regeln
19
Vgl. Ferrera (1993), S. 60.
20
Siehe hierzu Esping-Andersen (1990) und Ferrera (1996). Das mediterrane Modell des Wohlfahrts-
staates kann als eine Variante des korporatistischen Systems gesehen werden. Die s deurop ischen
L nder Griechenland, Italien, Portugal und Spanien besitzen relativ neue soziale Systeme, die durch
niedrigere Sozialausgaben (etwa ein Viertel des BIP) charakterisiert sind. Die Einkommensgarantie-
Systeme sind nach Berufsgruppen stark fragmentiert. Die Familie als Wohlfahrtsproduzent spielt in
diesen Gesellschaften eine wichtigere Rolle. In den Mittelmeerl ndern fehlt ein fl chendeckendes
Mindestma an sozialem Schutz, obwohl in j ngerer Z eit einige Staaten versucht haben, durch die
Einf hrung von garantiertem Mindesteinkommen diese Anomalie zu beheben (in Spanien, Portugal
und versuchsweise in Italien). Noch nicht ausreichend sind die entwickelten Programme der
Sozialhilfe und der Arbeitsmarktpolitik. Vgl. Zoli (2004), S. 2.
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und sozio konomischer Verst ndnishaltungen, die ges ellschaftliches Problem-
wahrnehmen und konkretes, historisches wie gegenw r tiges sozialpolitisches
Entscheidungsverhalten formen und steuern 21. Lohmann spezifiziert, dass es bei
den Wohlfahrtsstaaten nicht allein um das Ausma der Bereitstellung von
Dienstleistungen oder Ma nahmen der Einkommenssiche rung geht sondern um
den Einfluss auf Verh ltnis zwischen Markt, Staat u nd Familie 22. Esping-Andersen
betrachtet in seiner wohlfahrtsstaatlichen Forschungsanalyse 18 OECD-L nder und
klassifiziert sie in drei Sozialstaatstypen. Er unterscheidet zwischen dem liberalen,
dem konservativen und dem sozial-demokratischen Wohlfahrtsregime.
3.2 Theoretische Ans tze und Methodologie
Esping-Andersen bezeichnet die Erkl rungsversuche d er Funktionalisten, der Markt-
ressourcentheoretiker sowie der Institutionalisten und alle Theorien ber die
Entstehung und den Wandel des Wohlfahrtsstaates als ungen gend. 23 Er entwickelt
daher zwischen 1987 und 1990 seine eigene Theorie-Methode moderner
wohlfahrtsstaatlicher Regime,24 getrieben von dem Ziel, verstehen zu wollen, ob und
in welchem Umfang historisch wirtschaftliche, politische und soziale Faktoren
Einfluss auf die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten nehmen. Esping-Andersen
konzentriert seine Aufmerksamkeit in seiner Analyse auf die F higkeit des Staates,
die B rger von der hohen Korrelation zwischen Arbei tseinkommen und Wohlfahrt zu
befreien.25 Diese Unabh ngigkeit vom Arbeitsmarkt bezeichnet e r als De-
Kommodifizierung 26, die von ihm als letzter Zweck und Ideal 27, n mlich als die
Charakteristik der Wohlfahrtspolitik gesehen wird.28 F r die Einstufung der
Wohlfahrtsstaaten analysiert Esping-Andersen Faktoren wie die Art der Klassen-
mobilisierung, die klassenpolitischen Koalitionsstrukturen und das historische Erbe
der Regimeinstitutionalisierung 29 und ihre wechselseitigen Wirkungen. Er versucht
21
Rieger (1997), S. 3.
22
Lohmann ( 2007), S. 23.
23 Vgl. Baum-Ceisig u.a. (2008), S. 38 und siehe hierzu Esping-Andersen (1989), S. 19-31.
24
Vgl. Lessenich/ Ostner (1998), S. 11.
25
Vgl. Esping-Andersen (1990), S. 23 f.
26
Siehe hierzu Kapitel 3.3.1.
27
Siehe hierzu Rieger (1997), S. 5.
28
Vgl. Esping-Andersen (1990), S.3.
29
Esping-Andersen (1989), S. 47.
Das deutsche und italienische Wohlfahrtsstaaten-Modell: Konservative Regime? Analyse der Gesundheitssysteme im Vergleich
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mit seiner Analyse von einem linearen zu einem interaktiven Ansatz der Definition
und Erkl rung des Wohlfahrtsstaates berzugehen 30. Er erkennt die Arbeiter-
organisation als entscheidenden Faktor f r die Entw icklung der sozialen, politischen
und wirtschaftlichen Merkmale eines Staates an. In Bezug auf die Klassen-
mobilisierungsthese, vertritt er die Meinung, dass diese Interessenvertreter auf Grund
ihrer Kr fteverh ltnisse sowie ihrer Organisationss truktur, ihrer politische und
konfessionelle Spaltung und ihrer Handlungsf higkei t das soziale, politische und
konomische Leben eines Staates stark beeinflussen. 31 Allerdings gibt es nicht nur
einen Faktor, der die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates erkl ren kann.
Entscheidender ist f r Esping-Andersen die Wechselw irkung mehrerer Faktoren.
Von Bedeutung sind bei den von ihm betrachteten Staaten die jeweiligen
Koalitionsbildungspr ferenzen der neuen Mittelklass en 32, die sich in der
Nachkriegszeit entwickelt haben. In dieser historischen Phase werden neue
Machtverh ltnisse gebildet. Neue Privilegien werden bestimmten Personen je nach
sozialer Klasse und dem damit verbundenen Status zugeordnet. Der sozialpolitische
Traum scheitert und das liberale Denken etabliert sich. In der Tat haben die
politischen Entscheidungen des Mittelstandes zu einer starken und dauerhaften
Prinzipienfestlegung der jeweiligen Wohlfahrtsstaaten beigetragen. Das skandi-
navische Modell bleibt fest in dem universalistischen Prinzip der Sozialrechte
verankert und integriert es mit einer Anpassung der Wohlfahrt an die Bed rfnisse des
Mittelstandes. In den angels chsischen Nationen dag egen findet kein Kompromiss
zwischen Staat und Mittelklasse statt. Die Armen und Arbeiter bleiben von staatlichen
Sozialleistungen abh ngig. Die Mittelschicht orient iert sich an dem privaten Markt
(Dualismus)33. Das kontinentaleurop ische Modell zeigt einen Mit telweg auf. Die
konservativen politischen Klassen unterst tzen den Aufstieg der Mittelschicht,
behalten aber das berufsst ndische Sozialversicherungssystem 34 bei. Anhand
dieser Betrachtungen und unter der Ber cksichtigung l nderbezogener Hierarchien,
der Privatmarktentwicklungsst nde und der historisc hen Variablen, erkennt Esping-
Andersen teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den Staaten und klassifiziert
30
Esping-Andersen (1989), S. 52.
31
Vgl. Esping-Andersen (1989), S. 47 ff.
32
Esping-Andersen (1989), S. 40.
33
Esping-Andersen (1989), S. 51.
34
Esping-Andersen (1989), S. 52.