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Erstes Kapitel
Gratia und Charis: weltliche ung religiöse Bedeutungen von den
Griechen bis zum Alten und Neuen Testament
§ 1 - Die Bedeutungen des Wortes gratia
Sowohl in der italienischen als auch in der französischen und englischen
Sprache können alle in der Einleitung erwähnten Bedeutungen mit einem einzigen
Wort ausgedrückt werden: grazia, bzw. grâce und grace. Schon aus der Ähnlichkeit
der drei Wörter leuchtet ein, daß sie eine gemeinsame Herkunft aufweisen: alle
stammen nämlich aus dem lateinischen Wort gratia. Im italienischen
etymologischen Wörterbuch Carlo Battisti, Giovanni Alessio heißt es unter dem
Wort grazia:
1) f., XIII° sec. riconoscenza; favore reso ad alcuno; favore che si gode da
parte di qualcuno, credito, influenza”(F., xii. jh. Dankbarkeit; die Gunst, die man
jemandem geschenkt hat, oder die man bei jemandem genie Εt, Ansehen, Einflu Ε)
“voce di tradizione dotta che continua i tre significati fondamentali del lat. gratia
(cfr, gr. Φ ∆ Υ Λ 9) da gratus (Wort aus gelehrter Tradition, das die drei
Hauptbedeutungen des lateinischen gratia (vgl. gr. Φ ∆ Υ Λ 9) aus gratus fortsetzt).
2) f. XIII° sec. relig.; l’aiuto, il soccorso di Dio agli uomini; voce dotta lat.
tardo e lat. medievale eccles. gratia (dall’Itala) che traduce il greco “charisma”, da
gratus “grato”. Sempre del XIII° sec. l’accezione profana della voce dello stesso
significato” (f. XIII. Jh. reilig.; die Hilfe, der Beistand Gottes den Menschen
gegenüber; gelehrtes Wort, kirchliches mittelalterliches und Spätlatein gratia(aus
der “Itala”), Wort, das das griechische “ Φ ∆ Υ Λς Π ∆” übersetzt aus gratus
“dankbar”: Auch aus dem XIII. Jh. der weltliche Sinn des Wortes mit der selben
Bedeutung).
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3) f.. XIV° sec. condono parziale o totale della pena;v. dotta, lat. gratia nel
senso giurid. già accennato in Cicerone, ma espresso in Sallustio “gratiam facere
alicui delicti. Cfr. fr. grâce (a. 1226)”(f. XIV: Jh. Nachla Ε oder volkommener Erla Ε
der Strafe; gelehrtes Wort, lateinisches “gratia”, im schon bei Cicerone genannten,
aber bei Sollustio ausgedrückten juristischen Sinn.......).
“4) f.. XIII° sec., piacevolezza, bellezza, leggiadria, gentilezza; voce dotta,
lat. gratia che ha assunto questo significato come traduzione del greco “ Φ ∆ Υ Λ9” Cfr.
fr. grâce (a. 1280)” (f., XIII: Jh., Anmut, Schönheit, Lieblichkeit, Liebenswürdigkeit,
Gefälligkeit, gelehrtes Wort, lat. gratia, das diese Bedeutung als Übersetzung des
griechischen “ Φ ∆ Υ Λ9” vgl. fr. grâce (J. 1280) übernommen hat).1
Aus diesen Bestimmungen der italienischen grazia ergibt sich, daß es vom
lateinischen Wort gratia und früher noch von dem griechischen Φ ∆ Υ Λ 9 oder
Φ ∆ Υ Λ ς Π ∆ nicht abgesehen werden kann. Hinsichtlich der Bedeutung Gunst verdient
ja besondere Beachtung die Tatsache, daß bei der Übersetzung ins Italienische in
irgendeinem Wörterbuch der obengenannten lateinischen und griechischen Wörter
(nämlich gratia und Φ ∆ Υ Λ9 ) der religiöse Sinn kaum oder gar nicht erwähnt wird.
Nur unter dem Wort Φ ∆ Υ Λ ς Π ∆ ist eine religiöse Bedeutung zu finden: Φ ∆ Υ Λ ς Π ∆
wird nämlich als die Wirkung der göttlichen Gnade erklärt. Ursprünglich wiesen
nämlich die beiden Wörter gratia und Φ ∆ Υ Λ9 mehrere, aber bloß weltliche
Bedeutungen auf. Aus dem italienischen etymologischen Wörterbuch Manlio
Cortellazzo, Paolo Zolli entnimmt man nämlich, daß das kirchliche Latein das
Bedeutungsfeld des Wortes gratia beträchtlich erweitert hat.2. In diesem
Zusammenhang kommt auch im französischen etymologischen Wörterbuch
Wartburg das lateinische Wort gratia vor und darunter folgende genaue Angabe:
“Gratia, abl. von gratus, hat nirgends in der Romania volkstümlich
weitergelebt.....Wohl aber ist es überall entlehnt worden, dank dem intensiven
Gebrauch, den die christlichen Schriftsteller davon machten, weil sie es als
äquivalent von gr. charis verwendeten. Bei ihnen hatte gratia vor allem die
1
Vgl. Carlo Battisti Giovanni Alessio, Dizionario Etimologico Italiano ,Firenze, G. Barbera edit.
2
Vgl. Manlio Cortelazzo Paolo Zolli, Dizionario Etimologico della Lingua Italiana, Bologna N. Zanichelli
S.p.A. edit.
4
Bedeutung “Gnade” (im Sinn Erlösung) schon seit der Itala, und in dieser
Bedeutung ist es zuerst im Französischen belegt.”3
Zum Unterschied vom Italienischen, Französischen und Englischen, lassen
sich im Deutschen nicht alle Bedeutungen von gratia mit einem einzigen Wort
ausdrücken. Einerseits wird nämlich die Bedeutung der Gefälligkeit und
Lieblichkeit mit den Wörtern Anmut, Reiz und Grazie wiedergegeben - wobei zwar
Reiz sich eher der dem Rokoko eigentümlichen frivolen Auffassung des Wortes
ziemt und Anmut vielmehr dem ethisch-ästhetischen Sinn bei der deutschen
Ästhetik des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck dient. Andererseits wird jedoch die
Bedeutung der Gunst und Huld durch das Wort Gnade ausgedrückt, womit auch der
religiöse Sinn gemeint wird. Unter den eben erwähnten deutschen Wörtern weist nur
Grazie eine lateinische Herkunft auf. Wie es dem Deutschen Etymologischen
Wörterbuch Kluge4 entnommen werden kann, hat dieses Wort um 1700 als Grace
seinen Ursprung, nämlich als Lehnwort der französischen grâce, die ihrerseits
gerade aus der lateinischen Sprache stammen würde. Später sei es durch Grazie
verdrängt worden, und zwar als Winckelmann 1759 zum ersten Mal in seiner Schrift
Von der Grazie in den Werken der Kunst diesen Ausdruck verwendete. Grazie gilt
aber bloß als Synonym für Anmut und Reiz. Die religiöse Bedeutung wird dagegen
durch das Wort Gnade ausgedrückt, dessen Ableitung keineswegs lateinisch ist.
AHD ginada und MHD5 g(e)nade, von denen eben Gnade abstammen würde, sind
“Substantivbildungen zu einem in germanischem Sprachbereich nur im Gothisch
bewahrten Verb ni Υan = unterstützen, helfen, dessen weitere Herkunft unbekannt
ist.”
6
Die Grundbedeutung des Verbs ni Υan war “sich neigen” und konnte entweder
als “sich zur Ruhe neigen”, oder als “sich huldvoll neigen” verstanden werden.
Keine von diesen beiden Bedeutungen wies urprünglich einen religiösen Sinn auf,
aber die zweite wurde um 700 von irischen Glaubensboten verwendet, um das
3
Vgl. Wartburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch. Eine Darstellung des galloromanischen
Sprachschatzes, Basel Helbing & Lichtenhahn 1952.
4
Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin-New York 1975.
5
AHD = Abkürzung von Althochdeutsch; MHD = Abkürzung von Mittelhochdeutsch.
6
Vgl. Duden, Das Herkunftswörterbuch, Etymologie der deutschen Sprache, Bibliographisches Institut-
Mannheim, Dudenverlag 1963.
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kirchenlateinische, auf Gott bezogene Wort gratia zu übersetzen.7 Daraus entstand
deshalb die Verwendung des Wortes Gnade, um das barmherzige Verhalten Gottes
gegenüber den Menschen auszudrücken. Ein gewißer Parallelismus zwischen den
beiden Wörtern gratia und Gnade läßt sich erblicken, obschon sie ganz
verschiedene Abstammungen aufweisen: Gnade war nämlich ursprünglich ein Wort
mit weltlichem Sinn, das später, als Übersetzung der lateinischen gratia, eine
religiöse Bedeutung übernahm, was auch seinerseits für das Wort gratia gilt, dem
zwar ein religiöser Sinn beigemessen worden ist, um das griechische charis zu
übersetzen.
§ 2 - Charis als vielbedeutendes Wort
Bei den griechischen Klassikern kam das Wort Φ ∆ Υ Λ 9 häufig vor, und nicht
immer mit derselben Bedeutung. In Aeschylus drückt Φ ∆ Υ Λ 9 einmal das besondere
Verhältnis der Griechen zur Welt aus und drückt alsdann die angenehme Natur aus,
d.h. die Grazie, die nicht unmittelbar vom Schönen, sondern vielmehr von der
Freude, die von diesem erweckt wird8, herrührt; einmal bezeichnet sie dagegen die
Gunst des Schicksals9, oder auch die der Götter10. In Euripides drückt das Wort
jedoch das bezaubernde Aussehen der Menschen aus,11 und in Plato die
Gefälligkeit.12 In Xenophon bezeichnet hingegen Φ ∆ Υ Λ 9 die Dankbarkeit13. Man hat
damit bloß einige Beispiele für das weite Bedeutungsfeld des Wortes angeführt14:
& ∆ Υ Λ 9 konnte sich nämlich auf die Freude beziehen, die aus der Betrachtung der
Schönheit hervorgehe oder konnte eine innere Stimmung ausdrücken, wie die
Zuneigung zu jemandem. In diesem Zusammenhang konnte sie doch auch die
Offenbarung dieser selben Stimmung bezeichnen, nämlich die Gefälligkeit und
Freundlichkeit, und folgerichtig ein konkreter Gunstbeweis werden. Die
7
Vgl. Kluge, siehe Fußnote 4.
8
Vgl. Aeschylus, Agamennon, V. 417.
9
Ebenda, V. 484.
10
Ebenda, V. 182.
11
Vgl. Euripides, Bacchae, V. 236.
12
Vgl. Plato, Gorgias, V. 462.c.
13
Vgl. Xenophon, Anabasis, V. 3,3,14.
14
Vgl. darüber Gerhard Kittel, Grande Lessico del Nuovo Testamento, italienische Ausgabe von F.
Montagnini, G. Scarpat, O. Soffritti, Paideia , Brescia 1988, Bd. XV. S. 529-30. Ursprünglicher Titel:
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Dankbarkeit, die man für diesen Gunstbeweis empfinden würde, konnte auch mit
dem Wort Φ ∆ Υ Λ 9 ausgedrückt werden. Es leuchtet daraus ein, daß Φ ∆ Υ Λ9 sowohl
eine Ursache als auch eine Wirkung ausdrücken konnte. Merkwürdig ist in dieser
Hinsicht, daß alle obengenannten und untereinander eng verbundenen Bedeutungen
einen freudigen Bedeutungsgehalt gemeinsam haben: Man entnimmt nämlich dem
Deutschen Teologischen Wörterbuch Kittel, daß Φ ∆ Υ Λ9 auf der Ähnlichkeit mit dem
Wort Φ ∆ ΛΥ Ζ, das eben Freude bedeutet, beruhe, und daß die Wurzel Φ ∆ Υ einen Sinn
von Wohlgefallen, Freude und Genuß ausdrücken würde.15 Dieselben Bedeutungen
kommen auch in der Bibel vor, wobei das Wort nicht unbedingt einen religiösen
Sinn übernimmt, wie man sich vorstellen könnte.
Wiederum im Wörterbuch Kittel heißt es, daß dem Neuen Testament eine
gewiße Tendenz eigentümlich sei, die verschiedenen durch das Wort Φ ∆ Υ Λ 9
ausgedrückten Stimmungen, zu vergeistigen und sie besonders - obwohl zwar auch
nicht immer - auf Gott zu beziehen. Selbst Φ ∆ Υ Λ 9 im Sinne von Anmut würde dabei
eine innerlichere Bedeutung übernehmen: Es handle sich nämlich um eine
besondere Grazie, die von einer inneren Schönheit herrühre, und wodurch der
Mensch Gott angenehm würde; es heißt z.B. in Lukas 2,52, in Bezug auf Jesuskind:
“ Σ Υ Η Ν Ρ Σ Ω Η Θ Η Θ Ω Κ ς Ρ Μ Λ ∆ Ν ∆ Λ Κ Ο Λ Ν Λ∆ Ν ∆ Λ Φ ∆ Υ Λ Ω Λ Σ ∆ Υ ∆ − Η Ψ Ν ∆ Λ ∆ Θ − Υ Ψ Σ Ρ Λ9”16:
“Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen”.17
Die Gunst, die in diesem Fall Jesus kraft der Gunst Gottes ihm gegenüber bei den
Menschen genießt, weise einen besonderen ästhetischen Bedeutungsgehalt auf. Die
Gnade Gottes würde ihm nämlich einen besonderen Nimbus verleihen, dem er die
Gunst zu verdanken habe, die er bei den Menschen genieße. In anderen Worten mag
man behaupten, daß die Gnade Gottes ihm eine besondere Anmut erteilen würde.
Hinsichtlich der obengenannten griechischen Verse, soll erklärt werden, daß
Φ ∆ Υ Λ 9 dabei keinem religiösen Begriff zum Ausdruck diente. Zwar konnte das Wort
Teologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hsg. von Gerhard Friedrich, Kohlhammer Verlag, Stuttgart
1973. Das Wort Φ ∆ Υ Λ9 wird hierbei im 9. Band von H: Conzelmann und W. Zimmerli behandelt.
15
Ebenda, S. 529. Hinsichtlich der Herkunft des Wortes Φ ∆ Υ Λ9 vgl. auch Armando Rollo, Franco Ardusso,
Giuseppe Ghiberti und Giuseppe Marocco, Enciclopedia della Bibbia, Elle di ci Leumann Torino.
16
Vgl. Gerhard Kittel, Grande lessico del Nuovo Testamento, B. XV. S. 578.
7
- in der Bedeutung von Gunst - ein Gunstbeweis von seiten der Götter, anstatt von
seiten eines Menschen, bezeichnen, woraus sich aber nicht unbedingt folgern läßt,
daß es einen besonderen religiösen Bedeutungsgehalt aufwies. Wie es wiederum
dem Wörterbuch Kittel entnommen werden kann, habe sich der Begriff der Φ ∆ Υ Λ 9
erst im späten Altertum in zwei besondere Richtungen entwickelt, die zur
Auffassung desselben im Rahmen des Neuen Testaments grundlegend seien.18
Einerseits sei das Wort zur Bezeichnung für einen Gunstbeweis von seiten des
Königs geworden, auf den aber der Begünstigte kein Recht habe, und der eben aus
diesem Grund auch unerwartet sei. Andererseits habe es die Bedeutung von Kraft
übernommen, und besonders beim Hellenismus von einer Kraft, die von oben
herunterkomme, woraus es folgen würde, daß es sich um eine überirdische handle,
der zwar ein religiöser Bedeutungsgehalt zugeschrieben werden würde. An diesen
Bedeutungsrichtungen können beide Voraussetzungen für den Begriff der Gnade,
besonders im N.T19, erkannt werden: auf der einen Seite nämlich der geschenkweise
gewährte Gunsterweis eines Vorgesetzten gegen einen Untergebenen, auf der
anderen eine überirdische Kraft.
§ 3 - & ∆ Υ Λ 9 im Alten Testament
Das A.T.20 weist kein Wort auf, das dem umfangreichen Begriff von Φ ∆ Υ Λ 9
vollkommen entspricht. Die LXX21verwendeten Φ ∆ Υ Λ 9 vor allem als Übersetzung
des hebräischen Wortes hen.22 Hen ist die Substantivierung des Verbs hnn, das im
A.T. 56 Male wiederkehrt, und das sowohl die huldvolle Stimmung jemandem
gegenüber ausdrückt, als auch die Hilfeleistung, die daraus hervorgehen könnte.
Dem Wörterbuch Kittel entnimmt man in diesem Zusammenhang, daß die
eigentliche Bedeutung des Verbs hnn eine herzliche Anteilnahme des handelnden
Subjekts bedinge, wobei aber auch dem Gegenstand der wohlwollenden Handlung
17
Was diese und die folgenden Stellen aus dem Neuen Testament betrifft, vgl. die deutsche Übersetzung von
Prof. Dr. Josef Kürzinger, Eichstätt; Imprimatur: 1. Oktober 1953 Dr. Fuchs , Generalvikar; 1953 Paul
Pattloch Verlag, Aschaffenburg. 1961: 12. Auflage.
18
Vgl. Gerhard Kittel, Grande Lessico del Nuovo Testamento, XV. Bd. S. 535.
19
N.T. = Neues Testament.
20
A.T. = Altes Testament.
21
So werden die Verfasser der “Septuaginta” genannt, nämlich die erste Übersetzung ins Griechische aus dem
hebräischen Text der Bibel, die eben von einer Kommission von siebzig Übersetzern durchgeführt wurde.