1
1. Einleitung
Zur Möglichkeit einer italienischsprachigen Version des Musicals Elisabeth äußert sich der
gebürtige Italiener Bruno Grassini, der die Rolle des Attentäters Luigi Lucheni in dem
Musical mehrmals gespielt hat
1
und der zudem eine Ausbildung zum Dolmetscher und
Übersetzer an der Universität Triest absolvierte, mit den folgenden Worten:
„Bei einer komplett italienischen Fassung wäre ich gespannt auf die
rhythmische Übersetzung. Man muss bedenken, dass es nicht nur
inhaltliche Vorgaben gibt, sondern man als Übersetzer auch den
Zwängen von Reim und Rhythmus unterliegt. Ein inhaltlich so dichtes
Stück zu übersetzen, wirklich den ganzen Inhalt zu vermitteln und das
Ganze noch in Reime einzubetten, halte ich für eine riesengroße
Herausforderung, für einen literarischen Tanz auf dem Seil “
2
.
Dabei fasst Grassini ganz genau die Probleme zusammen, die die Übersetzung eines
Musicals mit sich bringt: einerseits die Verpflichtung zur Wiedergabe des Inhalts,
andrerseits die Zwänge auf formal-ästhetischer und musikalischer Ebene. Da die
verschiedenen Erfordernisse oft im Konflikt miteinander sind, stellt die Übersetzung eines
solchen musikalischen Bühnenwerkes eine sehr anspruchsvolle Aufgabe dar.
Die Wahl dieses Themas für meine Magisterarbeit ist in erster Linie auf mein
persöhnliches Interesse am Musiktheater, und vor allem an Musicals, zurückzuführen: die
Übersetzung eines Musicals schien mir die beste Vereinigung von meiner
Musiktheaterleidenschaft mit meinem Übersetzungsstudium zu sein. Mit der Übersetzung
eines Musicals hatte ich mich zwar schon im Rahmen meiner Bachelorarbeit
3
beschäftigt –
dabei handelte es sich um ein amerikanisches Musical
4
, von dem ich eine aufführbare
(bzw. sangbare) italienische Übersetzung verfasste –, meine Vorgehensweise war aber
ha uptsäc hli c h „ ind ukti v“ g e w e se n: ich g in g von de n konkr e ten P roble men und
Schwierigkeiten aus, auf die ich im Laufe der Übersetzung gestoßen war, um daraus
übersetzerische Generalisierungen und Strategien zu formulieren. Überdies versuchte ich
1
Und auch teilweise auf Italienisch bei den konzertanten Aufführungen von 2004-2005 in Triest (vgl. 1.4).
2
Bruno Grassini, interviewt von Sylke Wohlschiess und Barbara Kern, August 2008,
(http://www.musicalclub24.de/cms/kuenstler/darsteller/grassini-bruno/interview-zur-rolle-des-luigi-lucheni-
in-elisabeth-berlin-august-2008.html, Zugriffsdatum: 22.08.2010).
3
„ T h ea tr e T r an s latio n : An I tal ian Ver s io n o f t h e M u s ical W ick ed ” ( Un i v er s i tà d eg li St u d i d i T o r in o , 2 0 0 9 . Betreuerin: Professor Vincenza Minutella).
4
Wicked, von Stephen Schwartz und Winnie Holzman (2003).
2
auch einige theoretische Aspekte aus übersetzungswissenschaftlichen Beiträgen über das
Thema der Bühnenübersetzung
5
auf den spezifischen Fall eines Musicals auszudehnen.
Trotz der großen Vielfalt an übersetzerischen Problemen, die mit musikalischen
Bühnenstücken verbunden sind, scheint die übersetzungswissenschaftliche Fachwelt, sich
im Allg e meine n nur be s c hr ä nkt für diese s „ Nisc he nthema “ z u int e re ssi e r e n. Dies mag die
Regel sein, glücklicherweise gibt es jedoch, wie für jede gute Regel, Ausnahmen. Als ich
das letzte akademische Jahr (2009-2010) als Erasmus-Studentin an der Universität Wien
verbrachte, erfuhr ich zu meiner großen Freude, dass die Wiener Schule des Zentrums für
Translationswissenschaft sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Übersetzung von
Texten für das Theater auseinandergesetzt hat, und insbesondere auch mit der Übersetzung
von musikalischen Bühnenwerken
6
. Ich hatte also die Möglichkeit eine, wenn auch
geringe, Literaturauswahl zu diesem Thema zu sammeln, auf der ich dann mit einer
„ de dukti ve n“ Methode meine Übe rse tz ung sst r a teg i e n und -entscheidungen für das für die
Magisterarbeit gewählte Musical, Elisabeth, von Michael Kunze und Silvester Levay
(1992), abstellen konnte
7
. Die Wahl von diese m „ S iss i - Musi c a l“ a ls „ Au sg a n g stex t“ für meine Übersetzung hängt von verschiedenen Gründen ab. In erster Linie wollte ich mich
diesmal, zum Abschluss meines Studiengangs, unbedingt mit einem deutschsprachigen
Stück beschäftigen
8
. In zweiter Linie zählt Elisabeth zu meinen Lieblingsmusicals,
hauptsächlich aufgrund der ungewöhnlichen Darstellung der faszinierenden Figur der
österreichischen Kaiserin, in deren positive und negative Persöhnlickeitsmerkmale ich
mich oft selber wieder erkennen kann. Überdies stellt dieses „ öster re ic hische “ Musical
auch eine Reihe von kulturspezifischen Problemen, die neben der Bewahrung der gut
gebauten dramatischen Struktur und den unterschiedlichen anderen für diese Art von
Bühnentexten typischen übersetzerischen Schwierigkeiten, eine spielbare Übersetzung von
Elisabeth ins Italienische zu einer besonders herausfordernden Aufgabe machen. Dieses
Musical hatte ich schon vor ein i g e n J a hr e n „ a us S pa ß“ ve rsuc ht zu übersetzen; damals
waren aber sowohl meine sprachlichen und kulturspezifischen als auch meine
musikalischen und theaterspezifischen Kenntnisse noch viel zu begrenzt, als dass ich eine
5
U. a. : Bassnett, Susan, 1991 and 2002. Translation Studies, London; New York: Routledge. Pavis, Patrice,
1990. Le théâtre au croisement des cultures, Paris: José Corti.
6
Vor allem unter der Leitung von Mary Snell-Hornby und Klaus Kaindl.
7
Darüber hinaus waren auch Gespräche, die ich mit Franco Travaglio (italienischem Übersetzer von
verschiedenen, vor allem englischsprachigen, Musicals; vgl. Fußnote 94, S. 14) geführt habe, sehr hilf- und
aufschlussreich, insbesondere was die konkreten Arbeitsbedingungen für ÜbersetzerInnen in diesem
Theaterbereich betrifft.
8
Englisch lerne ich schon seit vielen Jahren, während ich erst an der Universität begonnen habe, Deutsch zu
studieren. Es war also sozusagen eine persöhnliche Herausforderung.
3
Übersetzung verfassen konnte, die den besonderen Erfordernissen dieser Theatertexte
gerecht werden könnte. Die in der vorliegenden Arbeit präsentierte Übersetzung ist also
eine tiefgreifende Über- und Bearbeitung dieses ersteren Übersetzungsversuches anhand
meiner vertieften Kenntnisse in all den oben erwähnten Bereichen, sowie der gelesenen
Literatur.
Im ersten Teil dieser Arbeit wird zuerst das Musical als Theatergattung (1.1), sowie als
multimodaler Texttyp im Rahmen der Übersetzungswissenschaft (1.2.) präsentiert; dabei
wird a uc h a uf de n S tand de r F or sc hun g in diese m „ N ische nbe re ich“ hing e wie se n und a uf die spezifischen Probleme, die bei der Übersetzung von musikalischen Bühnenwerken
auftreten können. Anschließend wird das Musical Elisabeth (Entstehungs- und
Produktionsgeschichte, Handlung, Struktur) vorgestellt (1.3) und schließlich wird das
Problem der Übersetzbarkeit und Exportierbarkeit dieses Musicals ins Ausland
(beziehungsweise nach Italien) angesprochen (1.4). Der zweite Teil der Arbeit besteht aus
meiner Übersetzung des ganzen Librettos des Musicals mit nebenstehendem Originaltext.
Im dritten Teil folgt eine Analyse der Übersetzung, die in drei Hauptabschnitten gegliedert
ist: musik-bezogene Probleme (3.1), textbezogene Probleme (3.2) und kulturspezifische
Probleme (3.3).
4
1.1 Das Musical als Theatergenre
Das Musical ist eine relativ junge, populäre Gattung des Musiktheaters, die, um es mit den
Worten des Komponisten Leonard Bernstein auszudrücken, „ irg e ndw o in de r Mi tte
z wisch e n Va rie té und O pe r“ steht
9
. Aufgrund der Formen-, Themen- und Stilevielfalt ist
eine genaue Definition dieses Theatergenres schwer aufzustellen. Im Allgemeinen gilt,
dass Musicals Bühnenwerke sind, die aus einem Zusammenspiel von verschiedenen
Ausdrucksmitteln bestehen, und zwar in der Regel aus Gesang, Tanznummern und
gesprochenem Dialog. Ursprünglich wurde da s W or t „ Musi c a l“ als Adjektiv benutzt, um
Stücke zu bezeichnen, die ungefähr seit den 1920er in englischsprachigem Raum
10
aufgeführt wurden und die kein reines Sprechtheater waren („ Musi c a l C omedie s“ )
11
.
Diese waren leichte Theaterstücke, die ein Happy End und eingelegte, nicht-
handlungsrelevante, sondern lediglich Unterhaltungszwecken dienenende, Tanz- und
Gesangnummern aufwiesen
12
. Im Laufe des 20. Jahrhunderts, und besonders seit den
1970er-80er Jahren, gewannen die Musik, die Songs und die Tanznummern, die in den
ersten Musical Comedies nur eine Nebenrolle im Handlungsverlauf gespielt hatten, immer
mehr an Bedeutung, bis sie zu völlig integrierten, handlungstragenden, gleichwertig
miteinander verbunden Elementen innerhalb des Stückes wurden. Darüber hinaus sind
immer mehr Musicals entstanden, die kein leichtes Thema und einfaches Happy End
haben, sondern auf dramatischen oder gar tragischen Geschichten bzw. historischen
Ereignissen und literarischen Quellen basier e n ( die sog e n a nnten „ Musi c a l P la y s“ ode r
„ Musi c a l Dr a mas“ )
13
, Aktualitätsthemen ansprechen und soziale Botschaften liefern
14
.
Ferner haben auch das Bühnenbild und die Bühnentechnik allmählich beinahe die gleiche
Bedeutung gewonnen, wie die Musik, die Geschichte und die DarstellerInnen selbst:
sog e n a nnte „ Mega musi c a ls“ sind e ntst a nde n, die da ra u f a bz iele n, die Zuse he r I nn e n mi t
9
Gruber, 2010: 27.
10
Vor allem die beiden Theaterbezirke, der New Yorker Broadway und das Londoner West End spielten eine
zentrale Rolle in der Entstehungsgeschichte des Musicals (Gruber, 2010: 25).
11
Gruber, 2010: 26.
12
Z. B. Anything Goes (1934) und Kiss me, Kate (1948) von Cole Porter, Annie Get your Gun (1946) von
Irving Berlin, Guys and Dolls (1950) von Frank Loesser und Hello Dolly! (1964) von Jerry Herman.
13
Vg l. R o m m e l, 2 0 0 7 : 6 . B eisp iele f ü r “ M u s ical Dr a m a s ”: West Side Story (1957) von Leonard Berstein
(literarische Vorlage: Shakespeares Romeo und Julia), Jesus Christ Superstar (1971) von Andrew Lloyd
Webber, Les Misérables (1980) von Claude-Michel Schönberg und Alain Boublil (literarische Vorlage:
Victor Hugos Roman Die Elenden).
14
Z. B. Hair (1968) von Galt MacDermot, Gerome Ragni und James Rado (Themen: Hippie-Bewegung,
Vietnamkrieg); Rent (1995) von Jonathan Larson (Themen: Homosexualität, Drogenabhängigkeit, Aids,
Arbeitslosigkeit).
5
wirkungsvollen akustischen und visuellen Bühneneffekten zu beeindrucken
15
. Die
eklektische Natur des Musicals spiegelt sich auch auf musikalischer Ebene wider, wo die
verschiedensten Stile (Rock, Pop, Jazz, Klassik etc.) verwendet werden
16
.
Auf deutschsprachigen Bühnen werden Musicals in übersetzter Fassung seit den 1950er
Jahren erfolgreich aufgeführt, obwohl man erst seit Anfang der 1980er Jahren von einem
echten Boom dieser Gattung auch in Deutschland und Österreich sprechen kann. Berlin
und Wien sind inzwischen zu richtigen Musical-Hauptstädten geworden, deren Spielstätten
sowohl deutschsprachige Inszenierungen von bereits vorhandenen Stücken als auch neue
Eigenproduktionen aufführen.
Trotz ihres riesigen internationalen Erfolgs werden Musicals von vielen Theaterkritikern
immer noch als öberflächliche und künstlerisch anspruchslose Produkte betrachtet und „ a ls bloße Unte rha lt ung und Kommer z a bg e tan “
17
, so dass man mit Recht sagen kann, dass sie
im Vergleich zu Oper und Sprechtheater „ un g e l iebte S ti e fkinde r d e r Th e a ter fa mi li e “
18
sind. Daraus folgt, dass auch die Fachliteratur zu diesem Thema spärlich vorhanden ist.
Jedoch zielen die meisten modernen Musicals nicht nur darauf, das Publikum zu
unterhalten, sondern a uc h in de n Zusc ha u e r I nn e n e ine „ spannungsträchtige Anteilnahme
a n dr a matis c he n B e g e b e nhe it e n“
19
zu erzeugen. Darüber hinaus sind sie die einzige
Theaterform, in der sich eine völlige Einheit von Musik, Tanz, Spiel und Text bis heute
bewahrt hat
20
; sie können daher als eine moderne, publikumswirksame Variante der Oper
angesehen werden
21
.
15
Schlacher, 2009: 16. Beispiele dafür sind die Bühnenversionen berühmter Disney-Trickzeichenfilme, wie
Die schöne und das Biest (1994) und Der König der Löwen (1997).
16
Schlacher, 2009: 15.
17
Müllner, 2007: 39.
18
Rommel, 2007: 15.
19
Bartosch, 2007: 11.
20
Gruber, 2010: 86.
21
Gruber, 2010: 88.
6
1.2 Die Übersetzung von Musicals: Probleme und Möglichkeiten
1.2.1 Stand der Forschung: Musicals als multi-modale Texte
Wenn man sie aus dem Blickwinkel der Übersetzungstheorie betrachtet, fallen Musicals –
zusammen mit Sprechtheaterstücken, Liedtexten, Opernlibretti, Filmdrehbüchern – in die
Kategorie der multi-medialen (bzw. –modalen
22
) Texte. Diese Texte besitzen eine
dualistische Natur
23
, da sie geschrieben wurden, um gesprochen bzw. gesungen zu werden,
und auf außerlinguistische Mittel graphischer, optischer und akustischer Art angewiesen
sind, damit sie völlig realisiert werden
24
. Bei der Textgestaltung weisen die verschiedenen
Medien eine Interdependenz voneinander und sie werden von den Text-Rezipienten
simultan wahrgenommen
25
. Bei multimodalen Texten ist der schriftliche Text an sich daher
nur ein Teil eines viel komplexeren Ganzes
26
, das als ein Zeichensystem beschrieben
werden kann
27
. Bei Musicals setzt sich dieses polysemiotische System aus sprachlichen
und musikalischen (Sprechstimme, Gesang, Musik), kinetischen (Tanz, Bewegungen,
Gestik und Mimik der DarstellerInnen) und materiellen (Bühnenbild) Zeichen zusammen.
Wie Snell-Hornby anmerkt, beschäfigt sich die translatorische Fachwelt kaum und erst seit
kurzem Zeit mit multimedialen Texten
28
. Insbesondere was musikalische Bühnenwerke
betrifft, sind die Beiträge zu dem spezifischen Thema ihrer Übersetzung sehr spärlich, es
ist fast so, als wären Music a ls a uc h e in „ S ti e fkind de r Ü be rse tz ung swis se nscha ft“
29
. Im
R a hmen de r L it e ra tur z um The ma „ B ühne nübe rse tz ung “ wird in de r R e g e l – mit der
einzigen Ausnahme von Snell-Hornby (1996)
30
– ausschließlich auf Sprechtheaterstücke
Bezug genommen
31
. Sonst sind vor allem Studien über die besonderen Merkmale und
22
Die B ez eich n u n g „m u lti - m o d al“ wurde 1996 von Mary Snell-Hornby geprägt und spezifisch für
Theatertexte verwendet. Al s „m u lti - m ed ial“ b ez eich n et s ie hingegen Texte, die in Verbindung mit einem
Video übertragen werden (Filme, Fernsehsendungen, Untertitel usw.), (Schlacher, 2009: 28).
23
Hörmanseder, 2008: 19.
24
Snell-Hornby, 1996: 30.
25
Reiss/Vermeer, 1984: 221.
26
„ [ Sie] leb en n ich t v o m Sp r ac h g e s ch e h e n allei n “ ( R ei s s , 1 9 7 1 : 8 6 ) .
27
Hörmanseder, 2008: 24-25.
28
Snell-Horby, 1993: 336.
29
Snell-Hornby, 1993: 347.
30
„„ All t h e w o r ld ‟ s a s tag e „ : Mu lti m ed ial tr an s latio n - co n s tr ain t o r p o ten tial? “ . In Heiss, Christine und
Bollettieri Bosinelli, Rosa Maria [Hsg.], Traduzione multimediale per il cinema, la television e la scena.
Bologna: Clueb.
31
Vgl. Aaltonen (2000) und Hörmanseder (2008).
7
Übersetzungsschwierigkeiten von Opernlibretti zu finden
32
, wobei man bestimmen muss,
inwiefern ihre Schlussfolgerungen sich auch auf Musicals anwenden lassen. Isolierte
Überlegungen über die spezifischen Erfordernisse bei der Übersetzung vertonter Texte sind
auch in einigen theoretischen „ Meilensteinen“ ü be r da s The ma „ L it e ra t ur übe rse tz ung “
33
enthalten, eine Systematisierung dieser Begriffe wurde aber nur von sehr wenigen
versucht
34
. Bezüglich der Übersetzung von Musicals sind die Aufsätze von Johan Franzon
(2005)
35
und Claudia Lisa (1996)
36
die einzigen veröffentlichten Beiträge, die ich finden
konnte; sonst haben sich anscheinend ausschließlich StudentInnen in ihren
Abschlussarbeiten bzw. Dissertationen mit diesem Thema beschäftigt
37
.
Fast alle der oben genannten Quellen greifen auf die von Katharina Reiss 1971 formulierte
und 1984 bearbeitete Übersetzungstheorie zurück, die auf einer Klassifizierung von
Te x tt y pe n a uf g rund de r e n „ domi nier e nde r“ S pr a c hf unkti on fußt. Nach dieser Theorie
f or de rn info rma ti ve bz w. inhalts be tont e Te x te e ine „ I nva ria nz a uf de r I n ha lt se be ne “ , b e i
for mbetonten bz w. e x p re ssi ve n Te x ten ist hi ng e ge n e ine „ for male Ana log i e “ und „ Äquiva lenz de r – durch Stilformen erreichten, wie z. B. Metrum, Reime, Metaphern,
Vergleiche usw. – ä stheti sc he n W irkung“ das Wichtigste, und, schließlich, bei
a ppe ll be tont e n bz w. ope r a ti ve n Te x ten ist die „ Er ha lt ung d e s tex ti mm a ne nten Appe ll s“ , d.
h. des gleichen Effektes bei dem Empfänger, erforderlich
38
. Als vierten Texttyp nennt
Reiss die multi-medialen Texte selbst, die eigentlich die anderen Texttypen überlagern, da
jeder dieser drei in der Gestalt des multi-medialen Typs auftreten kann
39
. Im Hinblick auf
Musicals zeigt sich, dass es sich dabei um Texte handelt, die insgesamt alle drei
Sprachfunktionen besitzen („ komm unikative P o l y funktionalit ä t“
40
), indem sie Elemente
der Darstellung, des Ausdrucks und des Appells in sich vereinen: Jedes Musical erzählt
32
In der vorliegenden Arbeit wird auf Dent (1935), Honolka (1987), Kaindl (1991; 1993; 1996), Golomb
(2005), Schafroth (2010) Bezug genommen.
33
Vgl. Nida (1964) und Lévy (1969).
34
In der vorliegenden Arbeit wird auf Drinker (1950) und Low (2005; 2008) Bezug genommen.
35
“ M u s ical C o m ed y T r an s latio n : Fid elit y a n d Fo r m at i n t h e Scan d in a v ia n My Fair Lady ”. I n Go r lée, D in d a [Hsg.] Song and Significance. Virtues and Vices of Vocal Translation. Amsterdam: Rodopi.
36
“ Si n g e n d e Üb er s etze r – übersetzende Sänger: Teamarbeit als Faktor der Sangbarkeit am Beispiel von Les
Misérables ”. In Heiss, Christine und Bollettieri Bosinelli, Rosa Maria [Hsg.], Traduzione multimediale per il
cinema, la television e la scena. Bologna: Clueb.
37
I n d er v o r lieg e n d en A r b eit w i r d au f d ie Dip lo m ar b eiten v o n C la u d ia L i s a ( „ Die Üb er s etzu n g d es m o d er n e n Mu s ical s a m B eisp iel v o n ‚ L es Misér ab les„“ , 1 9 9 3 , Un iv er s ität W ien ) u n d v o n B ea tr ice So r ian i ( “ T r ad u r r e un music al: p r o p o s ta p er u n a tr ad u zio n e d i T an z d er Va m p i r e” , 2 0 0 9 , Un iv er s i tà d eg li St u d i d i Fer r ar a) , und
auf d ie Ma g is ter ar b eit v o n S y lv ia Sc h lac h er ( „ Das f r an zö s i s ch e M u s ical „Ro m éo et J u lie tte – de la haine à
l‟ a m o u r “ i n d eu ts c h er Üb er s et zu n g . U n ter b eso n d er e r B er ü ck s ic h ti g u n g d er Sa n g b ar k eit u n d Ku ltu r s p ez if i k “ , 2009, Universität Wien) Bezug genommen.
38
Reiss, 1971: 34-47.
39
Reiss/Vermeer, 1984: 211.
40
Vgl. Kaindl, 1993: 73.
8
eine Geschichte, weist individuelle (nicht-)sprachliche Ausdrucksformen auf, und will eine
Reaktion erzeugen, d. h. Gefühle in den ZuschauerInnen wecken
41
. Snell-Hornby fördert
bei der Übersetzung von multi-modalen Texten einen holistischen Ansatz
42
, der wiederum
auf dem von Kla us Ka i ndl vorg e s c hla g e n e n „ g e staltt he or e ti sc he n Ansa tz “
43
stützt. Auf
Prinzipien der Gestaltpsychologie
44
bauend, analysiert Kaindl das musikalische
Bühnenwerk a ls „ Te x tg e stalt“, d. h. eine multimediale Ganzheit, die aus sprachlichen,
musikalischen und szenischen Zeichengestalten besteht und die aber mehr als die reine
Summe von seinen Teilen ist
45
; die verschiedenen Komponente (Musik, Sprache und
Szene) interagieren miteinander, indem sie zu einem dynamischen Ganzen verschmolzen
sind.
1.2.2 Skopostheoretischer Übersetzungsansatz
Darüber hinaus wird auch in allen Quellen
46
ein skopostheoretischer Ansatz bei der
Übersetzung von multimodalen Texten empfohlen. Die Skopostheorie wurde von Reiss
und Vermeer im Rahmen der funktionalen Neuorientierung der Translationswissenschaft
47
begründet und stellt eine allgemeine Translationstheorie dar, die Translation als
zielgerechte kommunikative Handlung
48
sieht. Folglich ist nach Reiss/Vermeer die
Orientierung der Übersetzung auf den Zweck, das Ziel, die Funktion – den „Skopos “ – des
Textes das oberste Kriterium, sodass eine Übersetzung nur dann „ a dä qua t“ sein kann,
„ we nn man die Ze iche n wa hl in de r Zielsprache konsequent dem Zweck der Übersetzung
unter or dne t“
49
. Auf g a be d e r Übe rs e tz e r I nne n ist , „ anhand eines Ausgangstextes einen für
einen anderen RezipientInnenkreis unter anderen kulturellen Gegebenheiten
funktionierenden (meine Kursivsetzung) Text zu verfassen “
50
. Nicht mehr die Äquivalenz,
im herkömmlichen Sinne, ist die Richtschnur für die Übersetzung, sondern die
Übereinstimmung zwischen dieser und dem Kommunikationsziel, denn die zu
41
Schlacher, 2009: 26.
42
Schlacher, 2009: 28.
43
Kaindl, 1993: 39.
44
Die psychologische Gestalttheorie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Berliner Schule
von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka entwickelt (vgl. Hörmanseder, 2008: 38).
45
Hörmanseder, 2008: 38.
46
Vgl. Hörmanseder, 2008: 63ff; Low, 2005: 185ff; Schlacher, 2009: 31ff; Lisa, 1993: 29ff; Snell-Hornby,
1993: 335ff.
47
Kadric/Kaindl/Kaiser-Cooke, 2010: 77.
48
Vgl. Reiß/Vermeer 1984.
49
Reiss/Vermeeer, 1984:139.
50
Schlacher, 2009: 32.
9
übersetzenden Texte nicht als isolierte linguistische Einheiten betrachtet werden, sondern
es wird immer Rücksicht auf ihren größeren Verwendungszusammenhang genommen
51
.
Die Übersetzung eines (musikalischen) Bühnenwerkes soll sich am Zweck der Vorstellung
vor e inem P ubli kum, „ das über eine andere Sprache und e in e a nde re K ult ur ve rf ü g t “
52
orientieren. Als obe rst e s Kr it e rium („ Ha uptsk opos“ ) g il t für (musikalis c h e ) B ühn e nwe rke die B ühne nwirk s a mkeit, d.h. da s, wa s de m „ S tück in se inem Ur spru ngsland seinen Erfolg
a uf de r B ühne ve rs c ha f ft“
53
hat. Mit anderen Worten sollen die ÜbersetzerInnen in erster
L ini e ve rsuc he n, „ die vom Autor e rstre bten Z ie le“ , „ de n Ge ist , die Atmos phä re und die
Aussa ge “ de s S tücke s, mi t de n Mi tt e ln de r Z ielspra c he für da s Z ielpubli kum z u übertragen
54
. Um die Komponenten der Bühnenwirksamkeit zu erkennen und erfolgreich
wiederzugeben, müssen die ÜbersetzerInnen das (musikalische) Bühnenwerk in seiner
Ganzheit erfassen
55
. So ist die Übersetzung dann nie eine rein linguistiche Operation,
sondern „die sukzessive Abfolge von Textsegmenten “ muss als ein „simultanes Ineinander
von Sprache-Musik-Szene“ begriffen werden, „um in theatralisch realisierbare
Textzusammenhänge übersetzt wer de n z u könne n “
56
. Konkreter, da ein Bühnentext immer
im Hinblick auf eine Inszenierung bzw. Aufführung übersetzt wird, muss e r „ de n Er for de rnisse n de s The a t e rs e ntpre c he n, [ ...] e r m uss vor a ll e m spielba r se in“
57
. So neben
de m Ha uptkrit e rium de r B ühne n wirksa mkeit lasse n sich a ls „ S ub skopoi “ be i de r Übersetzung von musikalischen Bühnenwerken die folgenden Kriterien auflisten:
Sprechbarkeit, die „ durc h die Aus wa hl de r Konsona nten und Vo ka le, die
Interpunktion, die Wahl der grammatikalischen Zeit sowie durch die Gesamttext-
bz w. Te x tabsc hnit tsl ä ng e be sti mm t“
58
wird;
Atembarkeit, nach der „ de r Rhythmus von Sätzen und die Länge von Worten im
Einkl a ng mi t den E mot ionen de r D a rste ll e r I nne n s e in m üssen“
59
;
Sangbarkeit (vgl. 1.2.3.).
Von diesen Kriterien hängt in der Praxis die Wahl der Übersetzungsstrategien und -
entscheidungen der ÜbersetzerInnen ab
60
. Dem skopostheoretischen Ansatz zufolge darf
51
Kadric/Kaindl/Kaiser-Cooke, 2010: 79.
52
Schlacher, 2009: 33.
53
Mounin, 1967: 137; vgl. Hörmanseder, 2008.
54
Lisa, 1993: 39.
55
Lisa, 1993: 36.
56
Kaindl 1993:40
57
Snell-Hornby, 1993: 37.
58
Hörmanseder, 2008: 99.
59
Schlacher, 2009: 37.
10
der Ausgangstext bei der Übersetzung in Form un Inhalt verändert werden, damit der
Zieltext seine Funktion in der Zielsituation erfüllen kann, sofern die Änderungen zum
S kopos diene n und nic ht a us „ bloßer üb e rse t z e risc he n W il lkür“ sta mm e n
61
. Kaindl
ve rw e nd e t da h e r li e b e r die B e z e ichnun g „ Ne u - und Na c h ge staltu ng e ine s Te x tg a nz e n“
62
,
wenn er sich auf Bühnenübersetzungen bezieht, denn im Grunde ist ein kreativer Vorgang
schon notwendig bei Texten, die außersprachlichen Zwängen unterliegen, wobei in allen
Quellen aber auch immer betont wird, dass die ÜbersetzerInnen der Intention des Autors
und der Aussage des Stückes verpflichtet sein müssen.
1.2.3 Spezifische Probleme
Im Folgenden sollen die spezifischen Probleme erläutert werden, die bei der Übersetzung
eines Musicals vorkommen. Das, was bisher über Musicals gesagt worden ist, lässt daraus
schließen, dass für ih re Übe rse tz ung „ unterschiedliche Aspekte auf gesanglicher,
sprachlicher, musikalischer und inhaltlicher Ebene berücksichtigt werden müssen “
63
.
Die verbalen Elemente in einem Musical sind der gesungene Text und die, falls vorhanden,
gesprochenen Dialoge, die schriftlich in Form des Librettos, also des Textbuches, und der
Partitur aufgezeichnet werden
64
. Neben den gesungenen und gesprochenen Texten
(„ Ha uptt e x t“) e nthält d a s L ibr e tt o auch Regieanweisungen (zeitliche und räumliche
Angaben über die Handlung, sowie darstellerbezogene Hinweisungen bezüglich Gestik,
Mimik, Kostüme, Bewegungen), die a ls „ Ne be ntex t“ be z e ichne t werden
65
. Zu den
nonverbalen Elemente zählen die Musik, die entweder rein instrumental sein kann (z.B. bei
der Ouvertüre, oder in Tanznummern), oder gesprochene Dialoge untermalt, und den
Gesang begleitet, und die Szene, d. h. Bühnenbild, Light Design, Choreographien,
Kostüme etc.
66
. Während der verbalisierte Text eine Variable darstellt, die bei der
Übersetzung neugestaltet werden muss, ist die Musik eine Konstante, die in dem Zieltext
unverändert übergenommen wird. Mit anderen Worten, muss sich die Übersetzung eines
60
Schlacher, 2009: 34.
61
Snell-Hornby, 1993: 346-347.
62
Kaindl 1993:41. Auch Herbert Kretzmer, englischer Übersetzer des ursprünglich französichsprachigen
Musicals Les Misérables (1986, Schönberg- B o u b lil), b ez eich n e t s ei n e Üb er s etzu n g lieb er als ei n e „ Nac h -
u n d Ne u d ich t u n g “ ( L is a, 1 9 9 3 : 6 1 -62).
63
Schlacher, 2009: 44.
64
Schlacher, 2009: 30.
65
Snell-Hornby 1993:338.
66
Schlacher, 2009: 30.
11
Musicallibrettos an der bereits vorhandenen Musik richten, wobei die musikalische
Struktur klar e r we ise „ die Dauer und die Akzentuierung der sprachlichen Aussagen “
67
in
dem Zieltext bedingt. Ein Musical wird in der Regel von midestens zwei Personen
geschaffen, einem Komponisten und einem Texter, und normalerweise wird die Musik
aufgrund eines bereits vorhandenen Textes, komponiert. Zudem arbeiten die meisten
Komponisten und Librettisten eng zusammen
68
, damit die Einheit des Werkes, das „Wort-
Ton-Verhältnis “ und die Sangbarkeit gewährleistet werden
69
. Bei der Übersetzung eines
Librettos ist die Vorgehensweise umgekehrt, denn der neue Text muss „doch zu einer
schon vorgegebenen Musik geschrieben werden, die durch die Formulierungen und Worte
des Librettos in der Ausgangssprache mitgeformt und geprägt wurde “
70
. Die
ÜbersetzerInnen sollen den Eindruck machen, dass ihre Worte diejenigen sind, „zu
welchen die Musik komponiert wurde “
71
. Folglich wird das Prinzip der Sangbarkeit bei der
Übersetzung solcher Texte maßgebend.
Unte r de m B e gr iff „ S a ng b a rke it “ darf nicht nur die metrische und rhythmische
Entsprechung des Zieltextes mit der Musik verstanden werden, sondern auch die
„ Na c hge staltu ng von a rtikul a torisch leic ht wie de rz uge be nd e r S pr a c h e “
72
, d. h. die
ÜbersetzerInnen müssen die SängerInnen als erste ZieltextrezipientInnen ansehen und
ihnen in den Mund Worte legen, die am einfachsten zu singen sind
73
. Natürlich gerät die
Beachtung der Normen der Sangbarkeit mit der Wiedergabe des semantischen Inhalts in
Konflikt, wobei die Musik generell als wichtiger als die Treue zum Inhalt betrachtet wird.
Jedoch gehen „die Meinungen hinsichtlich der Treue zum Ausgangstext im Bereich der
musikalischen Bühnenwerke weit auseinander “
74
. So schlägt einerseits Drinker die
folgende Hierarchie von Erfordernissen bei der Übersetzung von zu singenden Texten vor:
1) Bewahrung der Noten, des Rhythmus und der Phrasierung des Originales, 2) sangbare
Gestaltung des Zieltextes, 3) Anpassung des Zieltextes an die Musik, 4) Verwendung von
idiomatischer und natürlich-klingender Zielsprache, 5) Beibehaltung der Reime dort, wo
entweder der Text oder die Musik sie verl a n g e n, 6) W iede r g a be de s „ Ge ist e s“ und im
67
Kaindl, 1996: 62.
68
Rommel, 2007: 15.
69
Kaindl, 1991: 60.
70
Schlacher, 2009: 55.
71
Dent, 1935: 83.
72
Kaindl, 1993: 121.
73
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Sangbarkeit auch mit der Aktion auf der Bühne eng
zusammenhängt: wenn ein(e) DarstellerIn z. B. zu rasch agieren muss, kann eine Textzeile überhaupt
unsingbar werden (Lisa: 1993, 35).
74
Schlacher, 2009: 53.
12
Wesentlichen des Sinnes des Ausgangstextes
75
. Da ge ge n se tz t L ow in se inem „ P e nthathl o n Appr oa c h “ die B e ib e ha lt ung de r B e de utun g s c hon a uf de n z we it e n P latz na c h de r Sangbarkeit der Übersetzung, vor der Natürlichkeit der Sprache, und der Bewahrung von
Rhythmus und Reimen
76
. Golomb sieht auch eine möglichst treue Wiedergabe des Inhalts
als gleichwertig mit der Sangbarkeit des Translats
77
. Dies trifft besonders auf Musicals zu,
de nn “ a nders als die Operette besitzt das Musical im Generellen ein anspruchvolles
Libretto “
78
: der Musicalsong erfüllt dramaturgische Aufgaben, indem er die Handlung
vorantreibt, Personen charakterisiert und Atmosphären erzeugt
79
. Infolgedessen muss man
zumindest auf der makrostrukturellen Ebene
80
eine inhaltliche Äquivalenz erzielen, damit
die für die Handlung und die Figurencharakterisierung wichtigen Elemente beibehalten
werden. Überdies muss ein Text auch aus skopostheoretischer Perspektive „ in sich
verständlich und stimmig sein, i.e. intratextuelle Kohärenz aufweisen, um seinen Zweck
erfüllen zu können “
81
. Hing e ge n könne n inhaltl iche „ unwic hti g e re “ Ele mente a uf de r Mirkroebene geändert werden, wenn deren Beibehaltung gegen die Vorschriften der
Sangbarkeit verstößt
82
. Zudem sollen Musicalsongs auch kommunikativ prägnant sein: da
die Wortzahl, die man singen kann, viel geringer ist, als die Wortzahl, die man in dem
gleichen Zeitraum sprechen kann, muss jedes Wort in einem Liedtext dazu beitragen, dass
in knapper Form eine Entwicklung in der Handlung, ein emotionaler Zustand oder eine
Situation umrissen werden können
83
. Schließlich weisen Musicalsongs in der Regel auch
eine Reihe von Stilfiguren (wie Alliterationen, Metaphern, Wortspiele, Witze) auf, deren
Beibehaltung bzw. Wiedergabe in der Zielsprache gewissermaßen verpflichtend ist, denn
„Theatersprache ist immer Kunstsprache, eine Sonderform der gesprochenen Sprache “ , die
„eine spezielle Form textueller Kohäsion, semantische Dic hte “ , und Ausdr uc kskr a ft
aufweist
84
. Da die verschiedenen Erfordernisse jedoch miteinander in Konflikt stehen,
müssen die ÜbersetzerInnen Kompromisse finden, um die jeweiligen Konflikte beizulegen,
75
Drinker, 1950: 226.
76
Low, 2005: 191-199.
77
Golomb, 2005: 124.
78
Gruber, 2010: 33.
79
Gruber, 2010: 31.
80
Ho n o lk a v er s te h t u n ter „ Si n n “ n ic h t i m m er n u r „ d ie j e w eilig e s p r ac h l ich e B ed eu t u n g , s o n d er n au c h d er g esa m te Ko n tex t d es L ib r etto s , d ie C h ar ak ter e d er Fig u r en , i h r Sp r ac h k li m a “ ( 1 9 8 7 : 1 1 0 ) .
81
Schlacher, 2009: 33.
82
Vgl. Golomb, 2005: 133.
83
Vgl. Kaindl, 1993: 49.
84
Vgl. Snell-Hornby 1993:338.
13
indem sie bestimmen, welches Erfordernis jeweils zweitrangig ist und welches dagegen
den Vorrang vor den anderen haben soll
85
.
Ferner können bei Musicals auch kulturspezisfische Probleme auftauchen, die mit der
Theatertradition bzw. der Erwartungshaltung oder der Vorkenntnis des Publikums von der
Thematik des Stückes verbunden sind
86
. Die kulturellen Unterschiede zwischen Ausgangs-
und Zielland müssen immer sorgfältig berücksichtigt werden, damit das Stück ein
möglichst breites Publikum erreichen kann. Musicals sind letztendlich
Massenmarktprodukte, bei welchen die kommerziellen Aspekte genauso wichtig wie die
künstlerischen sind: sie müssen rentabel sein, und, da sie vom Publikum finanziert werden,
muss bei diesem eine positive Rezeption herrvorgerufen werden.
Die Rolle des/der Übersetzers/in bei einem (musikalischen) Theaterstück ist von zentraler
Bedeutung für den Erfolg des Stückes in dem Zielland
87
. Von den vorangegangenen
Überlegungen geht auch hervor, dass seine/ihre keine leichte Aufgabe ist. Er/Sie soll ein(e)
„ E x pe rtIn “ in mehr als einem Bereich sein, vor allem soll er/sie Fachkenntnisse über die
Theaterwelt, sowie eine gewisse Kenntnis der musikalischen Formenlehre - d. h. den
Notentext lesen können - besitzen
88
. Im Idealfall kann er/sie sich das Stück in der
Originalfassung ansehen, dann sollte er/sie eine genaue Analyse von Text und Musik
durchführen, um ein dramaturgisches Verständnis des Stückes mit seinen abwechselnden
Spannungs- und Entspannungsmomenten zu erreichen
89
. Zugleich sollte er/sie die
Schwerpunkte in der Musik und die entsprechenden Hauptaussagen im Libretto, sowie
einzelne wichtige Wort-bzw. Silben-Ton-Verbindungen, Reime und textliche
Wiederholungen, erkennen. Ferner sollte er/sie auch die Stellen bestimmen, wo besonders
leicht singbare Worte zu finden sein sollen
90
. Am besten ist der/die ÜbersetzerIn bei den
Proben anwesend, er/sie arbeitet mit dem/der RegisseurIn, dem/er DirigentIn und den
DarstellerInnen zusammen, und, wenn nötig, verändert er/sie seine Übersetzung anhand
der konkreten Probleme, die auftauchen können
91
. „ Hieraus ergibt sich in einem weiteren
Schritt ganz klar, dass es in hohem Maße sinnvoll ist, [...] die ÜbersetzerInnen in den
85
Drinker, 1950: 226.
86
Lisa, 1993: 38.
87
Lisa, 1993: 24.
88
Lisa, 1993: 48.
89
Schlacher, 2009: 39.
90
Drinker, 1950: 236.
91
Es kann z. B. passieren, dass Texte, die bei den Gesangproben durchaus sangbar waren, bei einer
Kostümprobe bzw. bei aktionsreichen Szenen nicht mehr sangbar sind, weil weniger Atem den
DarstellerInnen zur Verfügung steht (Lisa, 1996: 49).
14
Inszenierungsprozess aktiv einzubinden “
92
. Diese Zusammenarbeit der ÜbersetzerInnen
mit dem Produktionsteam e rw e ist sich notwe ndig , de nn „ Musicals werden nicht in der
Einsamkeit einer Poetenstube geschaffen “ , sonde r n „ s ie sind ein Gemeinschaftswerk “ von
„Produzent, Komponist, Texter, Regisseur, Choreograph, Lichtdesigner, Bühnen- und
Kostümbildner, schließlich [...] dem jeweiligen Übersetzer “
93
. Diese Teamarbeit ist in der
Tat die übliche Praxis im Musical-Bereich: wie es mir auch vom italienischen Musical-
Übersetzer Franco Travaglio
94
erklärt wurde, wird das Musical sozusagen als „Paket “ an
das ausländische Theater verkauft, in dem es zur Aufführung gelangen soll. Verkauft
werden nicht nur die Aufführungsrechte, sondern auch das Bühnenbild, die Kostüme, also
die gesamte Inszenierung, und schließlich auch die Übersetzung
95
. Diese wird von der
Produktionsfirma streng überwacht, damit sie dem Geist der Originalproduktion
entspricht
96
und manchmal wird sogar eine wörtliche Rückübersetzung verlangt. Diese
strenge Bindung „an die Vorgaben des Produktionsteams im Ursprungsland “
97
bringt aber
mit sich auch den Vorteil für die ÜbersetzerInnen eines ständigen Austausches mit dem
Creative Team der Ausgangs- und Zielsprache, und, wie Schlacher anmerkt, „eine
derartige Kooperation arbeitet also ganz im Sinne des oben genannten holistischen
Ansa tz e s“
98
. Snell- Hor nb y teilt diese Ansic ht, ind e m sie sc hr e ibt : „ für die Übersetzung
multimodaler Texte gilt [...], dass [...] nicht nur ein/e BühnenexpertIn oder SprachexpertIn
daran arbeiten darf, da die einzelnen Modi, mittels derer Information vermittelt wird, eben
mehreren unterschiedlichen Teildisziplinen angehören “
99
.
Wie gesehen, unterliegt die Übersetzung eines musikalischen Bühnenwerkes so vielen, oft
miteinander konfligrierenden, Zwängen, dass man sich fragen kann, ob es sich überhaupt
lohnt, ein Musical zu übersetzen, oder, ob es sinnvoller wäre, das Stück auch im Ausland
in der Ausgangssprache aufführen zu lassen, und dem Publikum durch über der Bühne
projizierte Obertitel bzw. vor den einzelnen Sitzen gestellte Textlaufbänder eine wörtliche
Übersetzung des Librettos zu liefern. Diese Praxis ist üblich in der Oper, wo die
ZuschauerInnen auch daran gewöhnt sind, den ganzen gesungenen Text aufgrund der
92
Hörmanseder 2008:125-127.
93
Weck, 1989: 4.
94
Übersetzer, u.a., von Andrew Lloyd Webbers Cats (2009, Compagnia della Rancia) und Jesus Christ
Superstar (2007, Compagnia della Rancia), Disneys La Bella e la Bestia (2009, Stage Entertainment Italy)
und Flashdance (2010, Stage Entertainment Italy).
95
In Europa wurde diese standardisierte Vergabepraxis der Rechte vom britischen Musicalproduzenten
Cameron Mackintosh eingeführt (vgl. Rommel, 2007: 110).
96
Vgl. Lisa 1996:48.
97
Schlacher, 2009: 44.
98
Ebenda.
99
Schlacher, 2009: 29.